59 Punkte Vorsprung: Hamilton hat eine Hand am WM-Pokal

, 09.10.2017

Die große Analyse des WM-Duells: Warum Sebastian Vettel so gut wie aus dem Rennen ist und vor welchen Gefahren Mercedes-Chef Toto Wolff jetzt noch warnt

Lewis Hamilton fährt mit Siebenmeilenstiefeln dem WM-Titel 2017 entgegen. Nach dem Grand Prix von Japan in Suzuka hat er 59 Punkte Vorsprung auf Sebastian Vettel. Das entspricht umgerechnet etwa zwei Siegen und einem sechsten Platz. "Von so einem Vorsprung", sagt der Mercedes-Star, "hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt."

34 Punkte waren es nach Malaysia, und selbst da sprachen viele schon von einem großen Abstand. Dass Japan 25:0 für Hamilton ausgehen würde, war da noch nicht absehbar. Jetzt fängt selbst Toto Wolff, sonst Weltmeister im Tiefstapeln, an, an eine Vorentscheidung zu glauben: "Wenn alles normal läuft, ist das ein riesiger Vorsprung", räumt der Mercedes-Sportchef ein. Und: "Wenn wir auf den Punktestand schauen, gibt uns das ein gutes Gefühl."

Sein Kollege Niki Lauda spricht gegenüber 'Sky' von einem "Riesenschritt. Es sind nur noch vier Rennen. Der Polster ist einmal nicht schlecht. Nur: Gewonnen ist es dann, wenn es wirklich gewonnen ist." Denn bei Mercedes weiß man, dass gerade Vettel oft dann am stärksten boxt, wenn er schon angezählt in den Seilen hängt.

2010 hatte er auf dem Weg zu seinem ersten WM-Titel zwei Rennen vor Schluss 25 Punkte Rückstand auf Fernando Alonso, aber beim Finale in Abu Dhabi krönte er sich trotzdem zum Champion. Und 2012 drehte er gar einen Rückstand von 44 Punkten nach zehn von 20 Rennen um, übrigens ebenfalls auf Alonso.

Vettel könnte in der WM in Führung liegen

Aber 56 Punkte in vier Rennen wettzumachen, das wäre selbst für Vettel-Verhältnisse ein Husarenstück. Dabei könnte alles ganz anders sein: In Singapur wäre der Sieg ohne Startcrash auf dem Silbertablett gelegen, in Malaysia hatte Vettel das mit Abstand schnellste Auto, und sogar gestern wäre er vielleicht siegfähig gewesen, wenn man bedenkt, wie viel Gegenwehr Hamilton von Max Verstappen hatte.

Hätte, wäre, wenn zählt nicht in der Formel 1. Aber wäre auf der Asien-Tournee alles zu Ferraris Gunsten gelaufen, könnte es in der WM genauso gut 310:289 stehen statt 247:306. "Die haben seit Singapur wirklich den Wurm drin. Da ist ein Rennen schlechter als das andere", zeigt Wolff gegenüber 'RTL' Mitleid, sagt aber im gleichen Atemzug: "In diesem Sport machst du keine Gefangenen."

Denn Mercedes habe solche Erfahrungen wie Ferrari auch schon gemacht, etwa bei Hamiltons Motorschaden in Malaysia 2016 - in Führung liegend, WM-entscheidend. "Ich kann nachvollziehen, wie es sein muss, in drei Rennen kaum Punkte zu sammeln. Das kann kein schönes Gefühl sein", sagt Wolff.

Ferrari wirft die Finte noch nicht ins Korn

Schließlich müsse sich Ferrari auch selbst an die Nase fassen: "Haltbarkeit ist natürlich ein Thema. An dem haben wir in den letzten Jahren gearbeitet." Der Lohn ist eine fast uneinholbare Führung in der Konstrukteurs-WM, in der Mercedes 145 Punkte vor Ferrari liegt. Wenn Hamiltons Vorsprung in der Fahrer-WM "sehr solide" ist, dann sei man in der Teamwertung sogar einen "Riesenschritt" weiter, so Wolff.

Aber bei Ferrari ist man weit davon entfernt, den Kopf in den Sand zu stecken. "Wir haben noch eine Chance. Die Punkte werden erst am Ende zusammengerechnet", gibt sich Vettel kämpferisch. "Hängt davon ab, was in den nächsten Rennen passiert." Dass es aus eigener Kraft schwierig wird, ist ihm jedoch bewusst: "Natürlich haben wir es jetzt nicht so sehr selbst in der Hand, wie wir uns das wünschen würden."

"Aber insgesamt entwickelt sich das Team gut. Wir werden von Rennen zu Rennen besser und sind viel weiter, als uns manche zugetraut hätten. Es gibt auch viel Positives", sagt er. Nachsatz nach dem Ausfall in Suzuka: "Das sehen wir heute natürlich nicht." Teamchef Maurizio Arrivabene, der jetzt nicht unbedingt sicherer im Sattel sitzt, ergänzt: "Diese WM ist noch nicht vorbei. Wir kämpfen bis zum letzten Rennen, bis zur letzten Runde, bis zur letzten Kurve. Das garantiere ich."

Mit Rosberg-Taktik zum WM-Titel?

Mercedes könnte indes einen Gang zurückschalten und Anleihen bei Nico Rosberg nehmen. Der fuhr 2016 nach dem letzten Grand-Prix-Sieg seiner Formel-1-Karriere viermal hintereinander hinter Hamilton auf Platz zwei und wurde trotzdem Champion. Aber von einer solchen Defensivtaktik hält Wolff nichts: "Wir werden unsere Herangehensweise nicht ändern, sondern von Rennen zu Rennen schauen."

"Wir haben immer noch eine Diva, die verstanden werden muss. Wir sehen unsere Performance in Relation zu unseren Hauptgegnern. Und da würde ich nicht sagen, dass wir im Vergleich zu Red Bull oder Ferrari total dominant sind", so der Österreicher. "Wir haben in den letzten drei Rennen von Ferraris Pech und Zuverlässigkeitssorgen profitiert, aber das bedeutet nicht, dass wir uns auf die Schulter klopfen. Ganz im Gegenteil. Wir müssen weiter pushen."

"Das hat sich bisher als die richtige Herangehensweise erwiesen. Und so müssen wir weitermachen", warnt Wolff davor, sich zu früh zurückzulehnen. Es falle ihm auch nicht schwer, die Spannung in der Belegschaft aufrechtzuerhalten: "Die Alarmstimmung haben wir auf jeden Fall, weil unser Auto eine Diva ist. Wir haben zehn Pole-Positions geholt in diesem Jahr und zehn Siege. Es ist das schnellste Auto. Aber sie ist ein bisschen kompliziert."

Hamilton geht keine "verrückten Risiken" mehr ein

"Wir sehen an Sebastian, wie schnell es gehen kann. Insofern müssen wir eine demütige Einstellung dem Naturell des Motorsports gegenüber an den Tag legen. Das macht es ja auch aufregend", ergänzt er und erklärt, was er mit "Naturell des Motorsports" meint: "Es kann immer etwas Unerwartetes passieren. Es sind noch 100 Punkte zu vergeben. Wir werden den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen, solange es nicht endgültig entschieden ist."

Wirklich? Vielleicht nicht auf Teamseite, was die technische Weiterentwicklung angeht. Aber dass Hamilton nicht mehr allerletztes Risiko geht, wurde schon in Malaysia entlarvt, als er bei Verstappens Überholmanöver kaum Gegenwehr leistete. "In meiner Position gehe ich keine verrückten Risiken mehr ein", gibt der WM-Leader zu.

Aber: "Manchmal schaffst du dir mehr Probleme, wenn du vom Gas gehst." Ob Hamilton dabei an sein großes Idol Ayrton Senna denkt? Der führte 1988 in Monaco mit haushohem Vorsprung. Doch kaum nahm er etwas Tempo raus, um den Sieg nur noch ins Ziel zu bringen, ließ seine Konzentration nach - und er landete in den Leitplanken. Das soll Mercedes fast 30 Jahre später eine Lehre sein.

Pfennigdefekte kosten Ferrari vielleicht Millionen

Währenddessen läuft in Maranello die Ursachenforschung. In Singapur führte Fahrerverschulden zu dem Crash. In Malaysia waren es defekte Rohrkümmer im Verbrennungsmotor. Und in Japan eine kaputte Zündkerze. Alles Pfennigdefekte, könnte man meinen. 'RTL'-Experte Christian Danner widerspricht: "Wenn der das Rennen nicht startet, kann das ein Pfennigteil sein - aber das ist keine Kleinigkeit."

"Man hat bei Ferrari die Technik nicht im Griff. Ob das jetzt Kleinigkeiten sind oder größere Sachen, bleibt sich im Ergebnis völlig wurscht", findet der ehemalige Formel-1-Pilot. Sein neuer Expertenkollege Rosberg, am vergangenen Wochenende in Diensten von 'Sky', stimmt zu: "Zu sagen, das ist alles nur Pech, wäre nicht fair. Es geht auch darum, die Zuverlässigkeit im Griff zu haben. Das hat Mercedes hinbekommen und Ferrari nicht."

"Mir kommt vor", analysiert der amtierende Weltmeister, dessen Nachfolger gerade gesucht wird, "dass Ferrari in der Weiterentwicklung jeden Tropfen aus dem Auto gequetscht hat. Jetzt lassen sie ein bisschen nach, und wir sehen sofort, dass sich da Defekte einschleichen. Das Auto ist so schnell, aber das reduziert ihre WM-Chancen dramatisch. Sie bleiben einfach zu oft stehen."

Hamilton: "Mercedes ist auf diesem Gebiet führend"

Vettel, zeigt Hamilton Verständnis, habe "unheimlich viel Pech" gehabt. "Aber heutzutage geht es in der Formel 1 eben auch maßgeblich um Zuverlässigkeit, um die Performance des ganzen Teams - nicht nur um den Speed auf der Strecke. Unser Team zeigt seit vielen Jahren, dass wir da eine sehr solide Plattform haben. Die Jungs machen einen phänomenalen Job, was die Zuverlässigkeit angeht. Mercedes ist auf diesem Gebiet führend."

Aus Ferrari-Sicht kommt erschwerend hinzu, dass für Vettel jetzt nur noch Siege zählen - aber schon der nächste Grand Prix in den USA einer ist, der zumindest der Papierform nach eher Hamilton entgegenkommen könnte. Fünfmal ist die Formel 1 bisher in Austin gefahren, und viermal hat der Mercedes-Fahrer gewonnen. 2015 führte er dort sogar die vorzeitige WM-Entscheidung herbei. "Cap-gate" ist allen noch in bester Erinnerung.

"Sollte uns liegen. Austin ist eine Lewis-Strecke", weiß Mercedes-Sportchef Wolff. Für Ferrari hingegen, glaubt Danner, werde es "von Mal zu Mal schwieriger, diese Motivation und diese Laune zu behalten. Wenn Sebastian im Rennauto sitzt, mache ich mir keine Sorgen - da wird er nach wie vor das Beste geben. Aber dieses Moment, das man braucht, um das Team zu motivieren, das geht langsam aber sicher ein bisschen verloren ..."

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