Alarmstufe Chrom: Goss, übernehmen Sie!

, 15.03.2013

Kein Grip, keine guten Rundenzeiten, keine schnelle Lösung: McLaren erlebt in Melbourne ein Debakel, hat aber die Hoffnung auf Besserung noch nicht aufgegeben

Dass die Formel-1-Mannschaften bei den Wintertests gerne tiefstapeln und ihre Karten nicht aufdecken, ist kein Novum. Showrunden bei den Erprobungsfahrten kommen vor, die Topteams haben das aber in der Regel nicht nötig. Oder doch? McLaren, am allerersten Testtag in Jerez mit einer Fabelrunde Jenson Buttons scheinbar das Maß der Dinge, hat die Szene an der Nase herumgeführt. Kaum Sprit im Tank und eine nicht-renntaugliche Abstimmung am MP4-28 machten es möglich.

Der Brite hat selbst eingeräumt, dass die vermeintliche Duftmarke nichts anderes war als ein gigantisches Luftschloss. Eine bröckelnde Fassade hatte es schon wenige Wochen nach seiner Erbauung erlitten: "Ich habe beim Abschlusstest in Barcelona nicht geglaubt, dass wir konkurrenzfähig wären", entkräftet Button den Mythos vom Topauto, das Wokings neues Schmuckstück dank neuen Aufhängungen an Front und Heck sowie einem aggressiven Chassis hätte sein sollen.

Im Freien Training in Melbourne galt es für die "Chrompfeile" jedoch, die Hosen runter zu lassen. Die bittere Erkenntnis: Button war mit einem Rückstand von 2,386 Sekunden auf Sebastian Vettel Elfter, Sergio Perez erwischte die Formkrise auf Rang 13 noch heftiger. Den Mexikaner trennten 2,406 Sekunden vom amtierenden Weltmeister. Ein Schlag ins Kontor, wie Martin Whitmarsh einräumt: "Wir sollten uns um unser Tempo Sorgen machen", erklärt ein finster dreinblickender Teamchef bei 'Sky Sports F1'.

Auto macht alles, aber nicht das, was es soll

Offenbar brennt es bei McLaren an allen Fronten und zwar lichterloh: "Es war ein harter Tag, uns fehlt Grip und das Auto liegt nicht", beklagt Whitmarsh. Von einem Journalisten auf "ein paar Probleme" angesprochen, flüchtet er sich in blanken Sarkasmus: "Vielen Dank für die nette Untertreibung. Ich würde sagen, dass das einer der härtesten Tage war, an die ich mich erinnern kann." Offenbar ist die Mängelliste ewig: "Ich weiß nicht, ob wir hier genug Zeit haben, um diesen Tag zusammenzufassen."

Allen voran die unruhige Straßenlage, die sich in gnadenlosem Untersteuern äußert, wird auf dem unebenen Kurs im Albert Park zum australischen Bumerang. Weil die Anströmung gestört wird, arbeitet die Aerodynamik nicht mehr korrekt und potenziert die Probleme am MP4-28. Laut Button und Perez sind beide Achsen vom fehlenden Grip betroffen, was die Balancefindung zusätzlich erschwert. Schnelle Abhilfe ist nicht in Sicht: "Wir haben heute keine Fortschritte erzielt, das ist ein bisschen ein Grund zur Sorge", so Whitmarsh.

Perez hatte eigentlich geglaubt, sich mit seinem Teamechsel Topmaterial unter die Sitzschale geschnallt zu haben. Auf dem fünften Kontinent ist der Neuzugang aus Sauber-Reihen jäh enttäuscht worden und schafft es nicht, sich an das Limit heranzutasten. "Das Auto ist sehr unbeständig in den Kurven. Es macht nicht nur eine Sache, sondern so viele gleichzeitig, dass es schwierig werden wird, ein gutes Setup zu finden", erläutert Perez, der eigentlich hatte zeigen wollen, dass er das Zeug zum Grand-Prix-Sieger hat.

WM-Punkte als "großes Ziel"

Doch die McLaren-Brötchen fallen kleiner aus, genau genommen sind es fast schon Kräcker. Der Mexikaner hält es bereits für "schwierig", WM-Punkte zu holen und auch Button hat den Optimismus offenbar im Gepäckfach des Langstrecken-Fliegers nach Australien vergessen: "Der dritte Qualifyingabschnitt wird eine hohe Hürde", schreibt er eine Startposition unter den Top 10 schon beinahe ab. Zähler seien ein gutes Ergebnis, "gemessen an dem, was wir heute gesehen haben", so Button.

All das kommt nicht überraschend, aber ist in seinem Ausmaß auch für die Piloten nicht abzusehen gewesen. Doch wie das Ruder noch rumreißen? 2012 hatte McLaren ähnliche Probleme in Melbourne, damals allerdings auch massive Abstimmungsprobleme. Man drehte an den richtigen Stellschrauben, schon klappte es einigermaßen. 2013 jedoch glauben Whitmarsh und Co., bereits das optimale Setup gefunden zu haben. Das Ergebnis ist offenkundig und ohne Umwege gesprochen: desolat.

Es bleiben noch drei Hoffnungen. Erstens: Regen. Button ist sich nicht sicher, ob Nässe die Probleme ausradiert, außerdem wäre es wohl nur kurzfristige Abhilfe und keine nachhaltige Lösung. Zweitens: schonender Umgang mit den Reifen. Möglich, insbesondere weil beide Piloten den Ruf haben, mit den Pneus einfühlsam zu haushalten. Allerdings scheint das nicht so gravierend wie vermutet abbauende Pirelli-Gummi nicht das ganz große Thema im Albert Park zu werden.

Nachtschicht geplant

Bleibt noch drittens: sich auf den Hosenboden setzen. McLaren will über Nacht das Datenmaterial analysieren und den Rettungsanker auswerfen. Es wird die ganz große Bewährungsprobe für den neuen Technikdirektor Tim Goss, der nach der Kaltstellung Paddy Lowes in der Verantwortung steht. Der bisherige Verantwortliche wird 2014 zu Mercedes wechseln, ist nicht in Melbourne und arbeitet derzeit nicht direkt mit dem Fahrzeug, um keine Betriebsgeheimnisse aus Woking zu entführen.

Whitmarsh will alles versuchen, um doch noch ein kleines Wunder zu vollbringen: "Wir kratzen uns am Kopf, heute sind wir einfach gestrauchelt." Gut möglich, dass McLaren schon zum Auftakt den Sperrstunden-Joker zieht und seine Mannschaft länger schuften lässt. Dennoch sieht es für den Australien-Grand-Prix düster aus, zu groß sind die Abstände auf die Spitze. Für 2013 sind Hopfen und Malz aber noch nicht verloren, zumal Melbourne über besondere Charakteristika verfügt, die sich so nicht so schnell wiederholen.

Auftakt verkorkst, Saison noch nicht

Whitmarsh unterstreicht: "Die Saison ist lang, und wir haben das Auto bewusst in vielen Bereichen verändert." Derzeit verstünden die Ingenieure nicht zur Gänze, wie das Maximum aus dem Auto herausholen zu sei. Sie sollen bis Ende November schuften: "Bis dahin werden wir Rennen fahren und das Auto weiterentwickeln. Das ist unsere Vorgabe." Der Teamchef weiß aber auch: "Natürlich wäre es angenehmer, konkurrenzfähig in die Saison zu gehen - und dann zu kämpfen. Wir kennen beide Situationen."

Perez will daran glauben, dass es sich um eine Momentaufnahme handelt: "Wir wissen, dass diese Strecke unseren Sorgen nicht zuträglich ist, das wird unsere momentanen Probleme maximieren." Allerdings war der Albert Park in den vergangenen Jahren ein McLaren-Pflaster. Vettel sieht seine Widersacher nicht geschlagen: "Es ist nur ein Freitag. Es kommt mit Sicherheit noch vieles. Also darf man niemanden zu früh abschreiben." Whitmarsh pflichtet bei: "Derzeit ist es ziemlich hart, aber wir sind ein starkes Team und wir werden uns durchbeißen."

Sportdirektor Sam Michael glaubt an "ungenutztes Potenzial im Auto", das McLaren mit seinem radikalen Redesign hatte schaffen wollen. Es wäre schlimm, wenn es das nicht gäbe.

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