Ferrari kann die volle PS-Leistung nun auch auf langen Geraden ausschöpfen, weshalb Sebastian Vettel guter Dinge ist und die Medien zu Optimismus auffordert
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Auf Aerodynamik-Seite brachte Ferrari weniger neue Teile nach Montreal als etwa Mercedes, aber dank des Motorenupdates, für das zwei Token investiert wurden, war der Abstand trotzdem geringer als bei den letzten Rennen. Sebastian Vettel war aus eigener Kraft siegfähig, die gut gemeinte Strategie mit dem vorgezogenen Boxenstopp während der virtuellen Safety-Car-Phase erwies sich aber im Nachhinein als Fehler.
Die größten Fortschritte hat Ferrari im Bereich der Antriebseinheit gemacht. Die war 2015 schon wesentlich besser als 2015, und dank des jüngsten Turbo-Updates wurde noch einmal ein Schritt geschafft. "Auf den langen Geraden, wenn der maximale Ladedruck erreicht ist", erklärt Formel-1-Experte Marc Surer, "wird Strom erzeugt. Bisher wurde der Turbo zu heiß, sodass sie nicht bis zum Ende der langen Geraden Strom erzeugen konnten. Aber dieser Strom wird direkt eingespielt, der bringt also zusätzliche Power. Das geht jetzt."
Das wirkte sich in Montreal unmittelbar auf die Geschwindigkeit aus. Beim Messpunkt auf der Start- und Zielgeraden erreichte Vettel 299,9 km/h und war damit nur unwesentlich langsamer als Nico Rosberg (300,3) und sogar schneller als Lewis Hamilton (295,4 km/h). Das muss nicht zwangsläufig nur an der Motorleistung liegen, ist aber zumindest ein ermutigendes Zeichen. "Sie waren auf den Geraden ziemlich schnell", attestiert Hamilton.
Arrivabene will nicht ein-, sondern überholen
Teamchef Maurizio Arrivabene analysiert messerscharf, wie viel noch auf den ersten Saisonsieg fehlt: "Fünf Sekunden. Und ein Zehntel im Qualifying." Auf die Frage, ob man mit dem Turbo-Update jetzt im Antriebsbereich auf Augenhöhe mit Mercedes sei, reagiert er genervt: "Es geht nicht darum, auf dem gleichen Niveau wie Mercedes zu sein. Wir müssen gewinnen! Erst wenn du gewinnst, kannst du sagen, dass du auf dem gleichen Niveau bist. Dann müssen die anderen sich an uns orientieren."
Arrivabene blickt daher mit "Demut" auf die nächsten Rennen, "weil wir genau wissen, wo wir stehen". Aber dass Ferrari endlich Fortschritte macht, die auf der Stoppuhr zu sehen sind, registriert er mit Zuversicht: "Das Team hat sehr gut reagiert, und wir fangen jetzt an zu verstehen, wie wir das Auto abstimmen müssen. Der Rückstand, den wir auf Mercedes haben, ist nicht groß. Aber wir müssen noch härter arbeiten, um aus eigener Kraft gewinnen zu können."
"Wir müssen so weitermachen und optimistisch bleiben. Wenn du den Sieg schon riechen kannst, bist du nachher natürlich ein bisschen enttäuscht. Aber das Team hat in Montreal großartige Arbeit geleistet. Ich bin zufrieden", lobt der Italiener. Ob Ferrari jetzt schon dazu in der Lage ist, Mercedes ernsthaft herauszufordern, "werden wir in Baku sehen. Aber klar ist, dass wir auf diesem Weg weitergehen müssen."
Große Fortschritte: Vettel fordert Geduld ein
Und: "Hier und da müssen wir ein bisschen geduldiger sein", findet Vettel, der in Montreal am liebsten schon auf Pole-Position gestanden wäre. "Wir machen Druck, aber wir müssen auch sehen, wo das Auto und der Motor 2014 waren und wo wir jetzt stehen. Das Team macht immense Fortschritte, und wir fordern einen Gegner heraus, von dem vor zwei Jahren jeder dachte, dass er unangreifbar ist."
2014 stand es nach sieben Rennen im Duell Ferrari gegen Mercedes 87:258; Ferrari war damals hinter Red Bull WM-Dritter. Jetzt ist Ferrari erster Mercedes-Verfolger, und der Punktestand sieht mit 147:223 wesentlich freundlicher aus als damals. "Es ist ein sehr ambitioniertes Ziel, aber wir wollen es wissen. Ich möchte sie unter Druck setzen. Sie spüren uns im Nacken", hat Vettel nach der starken Vorstellung in Kanada Lunte gerochen.
Positiv vor allem: "Wir hatten einen guten Start, aber wir hatten auch die Pace", stellt Vettel zufrieden fest. Die Zahlen untermauern das: Bis zum vorgezogenen Boxenstopp in der elften Runde konnte er Hamilton komfortabel außerhalb des DRS-Abstands halten. Nach dem Boxenstopp reduzierte Vettel seinen Rückstand innerhalb von sieben Runden von 12,0 auf 5,4 Sekunden. Da hatte er allerdings Supersofts drauf, die um 17 Runden frischer waren als die Ultrasofts von Hamilton.
Performance in Montreal unter der Lupe
Hamilton kam nach seinem Boxenstopp mit 11,8 Sekunden Rückstand auf Vettel wieder auf die Strecke. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Softs um 13 Runden frischer als Vettels Supersofts. Als Vettel 13 Runden später selbst zum zweiten Mal Reifen wechseln ließ, lagen zwischen den beiden immer noch 9,6 Sekunden. "Vor ein paar Rennen waren wir davon noch sehr weit entfernt", freut sich der Ferrari-Fahrer. "Es wird nicht einfach, aber die Zeit wird kommen, in der wir vorne liegen."
"Der Saisonstart war schwierig, denn wir konnten nie richtig zeigen, wozu dieses Auto in der Lage ist", verweist er zum Beispiel auf den Motorschaden in der Aufwärmrunde beim Grand Prix von Bahrain. Auch die Samstage, in denen Mercedes immer noch den besseren Antriebsmodus hat und mehr Leistung abrufen kann, seien "nicht so toll" gewesen. Aber: "Montreal war ein normales Wochenende, und da waren wir am Samstag und am Sonntag schnell."
Das ist bei der Konkurrenz längst angekommen: "Wenn man sich die langfristige Entwicklungskurve von Ferrari anschaut, dann fällt auf, dass sie von Rennen zu Rennen besser werden", zeigt Mercedes-Sportchef Toto Wolff Respekt. "Am Saisonbeginn hatten sie einfach ein bisschen Pech. Aber in Montreal konnte man sehen, dass Ferrari dazu in der Lage ist, Rennen zu gewinnen." Ob das genug sein wird, um schon 2016 einen spannenden WM-Kampf zu erzwingen, sei freilich dahingestellt.
WM-Kampf 2016 wahrscheinlich unrealistisch
Denn Vettel fehlen in der Fahrerwertung stolze 38 Punkte auf Rosberg. Selbst wenn der Ferrari-Fahrer die nächsten Rennen alle gewinnen sollte und Rosberg jeweils hinter Hamilton Dritter wird, würde es bis zum 13. Saisonrennen in Spa-Francorchamps dauern, dass Vettel als WM-Leader zu einem Grand Prix kommt. Und Mercedes in so einer Regelmäßigkeit zu schlagen, davon ist Ferrari dann doch noch ein Stück weit entfernt.
Trotzdem: Auch wenn sich Vettel über die knapp verpasste Pole-Position in Montreal ebenso geärgert hat wie über die durch die Strategie vergebene Chance auf den Sieg, ist die Grundstimmung so positiv wie seit Monaten nicht mehr. Nun wünscht er sich, dass sich das auch auf die Medienberichterstattung in Italien auswirkt: "Ich hoffe, dass Sie morgen schreiben, dass wir näher dran sind als je zuvor", sagte er in der FIA-Pressekonferenz in Montreal zum Journalisten Luigi Perna von der Gazzetta dello Sport.
Denn: "Es ist manchmal ein bisschen surreal. Wir sind ein italienisches Team. Ferrari steht für große Leidenschaft, aber manchmal scheint die italienische Presse unser größter Gegner zu sein", wundert sich Vettel - und fordert die Journalisten konkret auf: "Vielleicht schreiben Sie also mal was Nettes, denn das wäre eine schöne Botschaft an all die Leute in Maranello, die sich den Arsch aufreißen, um den Ferrari besser zu machen..."