Rosberg will weiter attackieren, muss aber nicht mehr gewinnen - Hamilton reicht sein Können alleine nicht: Er braucht die Defekthexe, Red Bull oder einen Teamcrash
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Lewis Hamilton hat beim US-Grand-Prix am Sonntag getan, was er tun konnte. Trotz dominanter Vorstellung in Texas ist der WM-Titel aber wieder ein Stückchen weiter in die Ferne gerückt. Denn Stallkollege und Erzrivale Nico Rosberg hat zwar nicht gewonnen und als abgeschlagener Zweiter eine deftige Schlappe gegen den Noch-Champion kassiert. Aber der Deutsche hat getan, was er tun musste: Ein 26-Punkte-Vorsprung ermöglicht es ihm, schon in Mexiko den Sack zuzumachen.
Drei Rennen vor dem Finale beginnen nun Rechenspielchen. Rosberg erlebt seine Fiesta Mexicana, wenn er am kommenden Wochenende gewinnt und Hamilton nicht punktet. Alles andere verschiebt die Entscheidung. "Für Lewis ist es ganz einfach: Er muss die drei Läufe gewinnen und kann nicht beeinflussen, was mit dem anderen Auto ist", bringt es Red-Bull-Teamchef Christian Horner auf den Punkt. Denn Hamilton kann nach wie vor nicht mehr aus eigener Kraft Weltmeister werden.
Kommt Rosberg immer als Zweiter hinter dem anderen Silberpfeil ins Ziel, feiert er in Abu Dhabi. Er könnte sich sogar noch einen dritten Platz erlauben. Heißt im Umkehrschluss: Hamilton braucht Schützenhilfe. "Ich versuche, positiv zu bleiben", bekennt er und denkt an Schlachten vergangener Jahre. Zum Beispiel, als er 2008 selbst ein Wunder vollbrachte. "Es gab in der Geschichte so viel Auf und Ab. Manchmal war der Tod schon sicher und es hat sich doch alles auf den Kopf gestellt."
Angst vor Motorschäden: Hamilton hört die Dämonen
Hamilton bleiben, wenn er zum Siegeszug ansetzt, zwei Optionen. Erstens: Rosberg bekommt ein technisches Problem und scheidet aus. Bislang traf es fast immer ihn selbst. "Bis jetzt war bei Nico alles 100 Prozent verlässlich", hadert Hamilton. "Aber es kann sein, dass ein Auto in einer Saison nie kaputtgeht. Ich darf mich darauf nicht versteifen." Genauso wenig wie darauf, um sein eigenes Equipment zu bangen. Er bekennt, in Austin im Cockpit wegen der Technik gezittert zu haben.
Hamilton schoss Malaysia durch den Kopf. Er hörte schon das Geräusch, dass ihn in Sepang aus allen Träumen riss, zumal er nach dem Freien Training wieder die Dämonen aufzogen sah: Tausch des Benzinsystems, Angst um den V6-Hybrid. Doch Hamilton bekennt gebetsmühlenartig, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Niki Lauda glaubt, dass ihm das längst gelungen sei: "Lewis hat richtig Oberwasser bekommen. Seine Ängste rund um den Motor sind verflossen", meint der Boss. Doch der Champion widerspricht: "Ich kann nicht kontrollieren, was in meinem Kopf vorgeht."
Keine Psychospiele, aber miese Tricks im Teamduell?
Klar ist: Hamilton hat kein Formproblem, auch wenn es seit der Sommerpause nicht mehr läuft. In Belgien und in Italien war er nicht langsamer als Rosberg, sondern musste Antriebskomponenten tauschen und verpatzte den Start. In Singapur bekam er aufgrund technischer Probleme das Setup nicht in den Griff, in Malaysia und in den USA dominierte er die Szenerie. Ein Ausrutscher in Japan als einziger Makel in sieben Rennen ist zu verschmerzen. Er sagt: "Ich kann nichts kontrollieren. Alles, was ich tun kann, ist die Saison in dem Wissen zu beenden, das ich alles voller Hingabe tue."
Mercedes-Sportchef Toto Wolff sieht das Schwanken der Vorherrschaft unter seinen zwei Stars als streckenspezifisch an. "Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen den beiden", meint er. "In Austin war Lewis schon immer ziemlich stark." Geht es danach, dann hätte Rosberg als Vorjahressieger der abschließenden drei Rennen gute Karten, zumal er selbst volles Risiko gehen will. "Ich bin nicht begeistert", raunzt er nach der Schlappe in den USA. "Ich habe das Rennen nicht gewonnen."
Lauda hält die Herangehensweise für richtig: "Wenn du zu früh im Kopf langsam fährst, geht immer etwas schief. Du musst voll angreifen", rät er. "Wenn es sich nicht klappt, Lewis zu schlagen, erst dann muss man den Kopf einschalten. Eigentlich erst in den letzten drei Runden." Rosberg mimt denjenigen, der nichts zu verlieren hat: "Ist doch toll, dass ich zum Saisonende noch um den Titel kämpfe. Was könnte ich mir mehr wünschen? Wenn ich die Sache so angehe, prima", grinst er.
Weniger als jeder vierte Leser setzt noch auf Hamilton
Nach dem gewonnen WM-Titel bei den Konstrukteuren ist zudem der Verhaltenskodex im Team aufgeweicht. Wolff erlaubte zuletzt freies Fahren. Zeit für schmutzige Tricks? Rosberg wäre ein Doppelausfall, etwa in Folge einer Kollision, nur genehm, auch wenn Mercedes eine solche Schumacher-Aktion im Stile von 1994 oder 1997 gar nicht schmecken dürfte. Riecht Toto Wolff etwas? "Es gibt keine psychologische Kriegsführung, wie wir sie in vergangenen Jahren gesehen haben. Es ist sehr ruhig. Sie sind beide gut gelaunt", wundert er sich. "Trotzdem bin ich skeptisch."
Der Vulkan könnte noch ausbrechen, sagt Wolff. Auch Hamilton hat ein Interesse daran, Rosberg aus dem Rennen zu kegeln - um mehr Punkte gutzumachen. Oder er muss auf seine Konkurrenz hoffen. Ferrari im neuerlichen Formtief scheint ihm nicht den Gefallen zu tun. Red Bull könnte eingreifen, auf den Powerstrecken Mexiko und Brasilien sind die Chancen allerdings gering. Wenn sind Daniel Ricciardo und Max Verstappen nur in Abu Dhabi und bei Regen eine Gefahr.
Die Leser von 'Motorsport-Total.com' glaubten an die Wende schon vor Austin nicht mehr: In einer Umfrage mit 2.164 abgegeben Stimmen sahen 75,46 Prozent Rosberg auf dem Weg zum Titel, nur 24,54 Prozent platzierten ihre Jetons noch bei Hamilton. Toto Wolff schließt sich an: "Der eine will nicht ausfallen, der andere muss gewinnen", überlegt er und kommt zu dem Schluss: "Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich auf Nico setzen. Aber das liegt nur an der Wahrscheinlichkeit."