Zuckerbrot oder Peitsche? Nach dem Reifendebakel von Silverstone steht Pirelli unter Zugzwang, doch sind die Probleme womöglich hausgemacht?
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Das sportliche Geschehen wurde gestern beim Großen Preis von Großbritannien in Silverstone nicht zum ersten Mal in dieser Formel-1-Saison durch die Diskussion über die Pirelli-Reifen in den Hintergrund gedrängt. Dieses Mal ging es jedoch nicht um den raschen Leistungseinbruch der Pneus oder geheime Tests, sondern um ein handfestes Sicherheitsproblem. Reihenweise platzende Hinterreifen und Schäden an mehreren anderen Reifen hätten um ein Haar zum Abbruch des Rennens geführt.
Ob nun eine scharfe Kante am Randstein, Trümmerteile auf der Strecke oder ein Konstruktionsfehler zu den insgesamt fünf Reifenplatzern im Verlauf des Wochenendes geführt haben: In Silverstone lieferte die Formel 1 Bilder, die weder für den Sport noch für Reifenlieferant Pirelli eine gute Werbung waren. Dementsprechend waren sich alle Beteiligten einig, dass sich solch ein Reifendebakel wie in Silverstone nicht wiederholen darf.
"Es kann nicht sein, dass man innerhalb von 16 Runden drei Reifenexplosionen hat und dann noch eine zum Schluss. Pirelli ist aufgefordert, sofort zu reagieren. So kann man nicht weiterfahren", macht Mercedes-Aufsichtsratsboss Niki Lauda bei 'RTL' klar. Der Österreicher sieht Pirelli unter Zugzwang. "Ich bin der Meinung, dass alle Teams gemeinsam Druck auf Pirelli ausüben müssen, damit wir in Budapest - für den Nürburgring kann man natürlich nichts machen - mit anderen Reifen fahren können, die diese Probleme nicht haben."
Pirelli unter Druck setzen oder unterstützen?
Auch die unmittelbar von den Schäden betroffenen Fahrer sehen dringenden Handlungsbedarf: "Selbst wenn wir nicht wirklich sagen können, was heute passiert ist, ist es inakzeptabel, mit dem Wissen fahren zu müssen, dass man nicht sicher ist", sagt Felipe Massa, der sich gestern nach einem Reifenschaden von der Strecke drehte. Und auch Rennsieger Nico Rosberg, der unter anderem vom Reifendefekt seines Teamkollegen Lewis Hamilton profitierte, ist der Meinung: "Mit den Reifen müssen wir das natürlich mal richtig analysieren, weil das geht nicht, dass wir so viele Reifenschäden haben."
"Das müssen sie verbessern, das ist gefährlich", sagt Rosberg in seinem Videoblog. Auch der Mercedes-Pilot erlitt einen im Rennen einen Reifenschaden, der aber glücklicherweise keine Auswirkungen hatte. "Beim Nico hatten wir eine riesengroße Blase. Deswegen haben wir noch einen Sicherheitsstopp eingelegt, der sonst gar nicht notwendig gewesen wäre. Er hat starke Vibrationen gehabt. Wir wären keine Runde weiter gekommen", erklärt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff bei 'RTL'
Allerdings will er Pirelli nicht an den Pranger stellen: "Jetzt müssen wir den Reifenpartner erst recht unterstützen", forderte Wolff bei 'Sky Sports F1'. Und auch Ex-Pilot David Coulthard sieht den schwarzen Peter nicht nur bei den Italienern. Man habe von ihnen verlangt, dass sie einen schnell abbauenden Reifen herstellen, und diese Aufgabe hätten sie möglicherweise etwas zu gut erledigt. Die Rennen seien zwar spektakulärer, die Reifen aber offensichtlich auch empfindlicher, was einfach nur gefährlich sei.
Coulthard und Newey sehen Probleme als hausgemacht an
Coulthard meint, dass Pirelli zu wenig Unterstützung durch die Teams erhalte. "Pirelli würde das Problem gerne lösen, sie werden aber durch das Testverbot und Teams, die paranoide Angst davor haben, anderen einen Vorteil zu gewähren, daran gehindert", schreibt Coulthard in seiner Kolumne in der Tageszeitung 'The Telegraph'.
In die gleiche Kerbe schlägt auch Adrian Newey, der die Problematik als hausgemacht und "typisch für die Formel 1" ansieht: "Es gab in diesem Jahr einige beunruhigende Reifenschäden. Pirelli bot daraufhin erstmals in Montreal eine Lösung in Form einer neuen Konstruktion an, die aber von zwei oder drei Teams abgelehnt wurde, weil sie die Befürchtung hatten, diese Reifen würden zu anderen Teams besser passen als zu ihnen", wird der Technische Direktor von Red Bull von 'Autosport' zitiert. Das Ergebnis dieser Kurzsichtigkeit habe sich in Silverstone auf erschreckende Weise gezeigt: "So wie ich es sehe, hätten wir mit der neuen Konstruktion nicht diese katastrophalen Reifenschäden erlebt", sagt Newey.
Nachdem sich bei den ersten Saisonrennen mehrmals die Lauffläche der Reifen abgelöst hatte, wollte Pirelli einen neuen Reifen mit Kevlar- statt Stahlgürtel einführen, um dieses Problem zu beheben. Dagegen hatten jedoch Ferrari, Lotus und Force India interveniert. Die drei Teams hatten vor allem einen sportlichen Nachteil befürchtet, da ihre Autos mit den Reifen am schonendsten umgehen. Pirelli hatte daraufhin mit einer stärkeren Verklebung des Reifens reagiert.
Wie kann Pirelli reagieren?
Dass diese Ursache für die Reifenschäden in Silverstone war, schloss Pirelli aus. Ob ein Zusammenhang mit den Defekten in der Frühphase der Saison besteht, ist derzeit noch unklar. Fest steht nur, dass sich irgendetwas ändern muss: "Wenn nicht so schnell wie möglich etwas getan wird, bin ich mir sicher, dass es erneut passieren wird", sagt Massa. Auch Newey meint: "Es wäre sehr enttäuschend, wenn jetzt einfach so weitergemacht würde."
Bei einem von FIA-Präsident Jean Todt einberufenen Krisentreffen soll am Mittwoch über das Problem gesprochen werden. Klar ist aber auch, dass bis zum Rennen am kommenden Wochenende am Nürburgring kaum eine Lösung gefunden werden kann. Doch zum Rennen in Budapest (28. Juli) fordern die Teams andere Reifen von Pirelli. "Fakt ist, dass es sehr gefährlich ist, wenn solch große Reifenteile durch die Gegend fliegen. Es muss etwas verändert werden", sagt Wolff bei 'Sky Sports F1'.
McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh schlug der Einfachheit halber vor, einfach die Reifen des Jahrgangs 2012 zu verwenden. Ob das aber die Patentlösung ist? Wolff hat da so seine Zweifel: "Ich weiß nicht, ob man einfach so zu den 2012er-Reifen zurückgehen kann. Ob es ein 2012er-Reifen muss, oder eine veränderte Struktur - ich weiß es nicht", zuckt der Mercedes-Motorsportchef mit den Schultern.
Schnelle Lösung erforderlich
Lauda sieht auch die Fahrer selbst in der Verantwortung: "Ich wundere mich, dass die Fahrer nicht mehr Druck machen. Aber das wird wohl jetzt passieren", sagt der Österreicher. Daran glaubt Coulthard aber nicht. Über Diskussionen über einen möglichen Boykott der Fahrer zeigt sich der Brite überrascht.
"Meiner Meinung nach werden sie damit nicht durchkommen. Fahrer wollen immer fahren. Ich wollte 2005 in Indianapolis das Rennen fahren, obwohl es großen Streit über die Reifen gab", erinnert sich Coulthard. Damals traten die von Michelin belieferten Teams nicht zum Rennen an, nachdem die Franzosen nach mehreren Reifenschäden im Training nicht für die Sicherheit der Pneus garantieren konnten.
"Man mag mich einen Zyniker nennen, aber ich glaube die Teams werden die Fahrer anhalten, die Änderungen zu verlangen, die ihnen am meisten helfen. Sie werden versuchen, aus jeder Situation einen Vorteil zu ziehen", äußert Coulthard Zweifel daran, dass die Teams in dieser Angelegenheit wirklich an einem Strang ziehen werden. Dies sei jedoch dringend geboten.
"Reifenschäden sind Fahrer-Killer", wählt Coulthard drastische Worte. Anders als ein Motorschaden seien Reifenplatzer, Bremsversagen oder ein festhängendes Gaspedal kritische Fehler, die sofort behoben werden müssten. "Es muss sich etwas ändern, denn wir haben es nur dem Renngott zu verdanken, dass es noch keinen schweren Unfall gegeben hat", meint der Brite. Neben der Sicherheit wirft Newey auch ein sportliches Argument in die Waagschale: "Sollte die Meisterschaft durch zufällige Reifenschäden entschieden werden, wäre das nicht sehr zufriedenstellend."