Mit aller Macht klammert sich Lewis Hamilton an seine letzte Chance auf den WM-Titel, doch Nico Rosberg übersteht die Fahrt im Bummelzug sehr knapp
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Nach 55 Runden hat sich der Traum von Nico Rosberg erfüllt: Er ist Formel-1-Weltmeister 2016! Teamkollege Lewis Hamilton hat zwar alle taktischen Kniffe probiert und sich bis zuletzt seinem Team widersetzt, doch Rosberg konnte beim Großen Preis von Abu Dhabi Rang zwei nach Hause fahren und sich so erstmals mit dem Titel krönen.
Das Finale war eine spannende Angelegenheit, auch wenn sich ein Doppelerfolg von Mercedes im Vorfeld nicht gerade nach Nägelkauen angehört hätte. Doch mit seiner defensiven Fahrweise sorgte Hamilton dafür, dass die WM bis zur letzten Sekunde offen war. Denn ein Bummelzug war seine einzige Chance, dass Rosberg nicht locker Rang zwei nach Hause fährt.
Am Donnerstag hatte der Silberpfeil-Pilot auf der Pressekonferenz noch angekündigt, dass es viel besser sei, seinen Gegner mit einem 30-Sekunden-Vorsprung zu zermürben, doch am Sonntag wählte er eine andere Taktik: "Entweder hätte er gezeigt, was in ihm steckt. Dann hätte er die Saison mit einem Megasieg nach Hause gebracht. Oder er spielt die andere Variante, alle auflaufen zu lassen, um Nicos Position zu gefährden. Er hat sich entschlossen, Letzteres zu tun", meint Motorsportchef Toto Wolff.
Aufregung bei ersten Boxenstopps
Nachdem er am Start die Führung vor Rosberg behauptet hatte, fuhr Hamilton im Anschluss nicht die Pace, die er eigentlich hätte gehen können. Fast wäre das allerdings gleich schiefgegangen: Als er bei seinem Boxenstopp in Runde sieben eine kleine Verzögerung durch Kimi Räikkönen in Kauf nehmen musste, ergab sich für Rosberg die Chance, an seinem Teamkollegen vorbeizuziehen.
Doch auch bei Rosbergs Wechsel von Ultrasoft auf Soft eine Runde später passierte das gleiche Malheur - diesmal mit dem zweiten Ferrari von Sebastian Vettel. Statt Hamilton anzugreifen, musste Rosberg daher fürchten, von Räikkönen oder Daniel Ricciardo (Red Bull) überflügelt zu werden. Zumindest diese beiden blieben hinter ihm, doch plötzlich war Ricciardos Teamkollege Max Verstappen zwischen den beiden Silberpfeilen, weil er sich einen Stopp sparte.
Rosberg wusste, dass er unbedingt am Niederländer vorbeikommen muss, doch ein erster Angriff in einer Schikane scheiterte. Fortan blieb der Mercedes-Pilot hinter Verstappen und gab sich vorerst mit Rang drei zufrieden. Normalerweise wäre Hamilton in so einer Situation dem Feld enteilt und hätte viele Meter zwischen sich und die Konkurrenz gelegt, doch das hätte ihm im Kampf um den WM-Titel nichts gebracht, also fing er an zu bummeln - und zwar so sehr, dass er sich schon bald über kalte Reifen aufregte.
Knallhartes Manöver gegen Max Verstappen
"Du musst unbedingt an Verstappen vorbei", hallte es daraufhin in den Funk von Rosberg. Denn der Niederländer lag trotz seines Drehers in der ersten Kurve nicht nur virtuell vor Rosberg, weil beide nur noch einmal an die Box kommen würden. Gesagt, getan: Mit einem knallharten, aber sauberen Manöver griff Rosberg nach Verstappen. In der Schikane nach der ersten langen Geraden war er schon daneben, beim Herausbeschleunigen aus dieser zog er vorbei und machte sich anschließend auf die Jagd nach Hamilton.
Gute fünf Sekunden fehlten ihm zu diesem Zeitpunkt auf seinen Teamkollegen, doch mit einer Serie an schnellsten Rennrunden robbte sich der Deutsche immer weiter heran. Das lag vor allem am Boxenstopp von Verstappen, der auf frischen Reifen nun schnelle Runden drehen konnte und sich mittels Undercut an Rosberg vorbeigeschoben hätte, wenn dieser nicht auf die Tube gedrückt hätte. "Die nächsten Runden sind wichtig", wusste auch das Team.
In Runde 28 und 29 kamen Hamilton und Rosberg wieder an die Box, um sich für ihren letzten Stint Softreifen abzuholen. Und ab da begann der Hamilton-Bummelzug wirklich auffällig zu werden: Aus vier Sekunden Rückstand wurde innerhalb weniger Minuten ein DRS-reifer Abstand von gut einer Sekunde. Mit aller Macht wollte Hamilton Rosberg aufhalten, um den Konkurrenten eine Chance zu bieten, ihn zu überholen. Rosberg musste mindestens auf Rang vier zurückgereicht werden, damit Hamilton den Titel holt.
Kommandostand sieht Sieg gefährdet
Und das stellte der Brite äußerst geschickt an: Nur im ersten Sektor gab Hamilton wirklich Gas, damit er nicht auf den langen Geraden von Rosberg hätte überflügelt werden können. In der kurvenreichen zweiten Rundenhälfte konnte er Rosberg einbremsen, ohne Gefahr zu laufen, dass Rosberg einen Angriff wagt. Er wusste, dass sein Teamkollege ohnehin keinen Versuch starten würde, außer er wäre sich seiner Sache ganz sicher.
Dem Kommandostand bei Mercedes gefiel die Taktik des dreimaligen Weltmeisters allerdings in keinster Weise. "Warum bist du so langsam?", fragte sein Team beim Briten nach - eine Frage, die Hamilton eigentlich nicht gewohnt ist. Eigentlich hätten sie sich die Frage auch selbst beantworten können, doch bei den Silberpfeilen dachte man nur an den möglichen Doppelerfolg, den Hamilton damit riskierte.
Fortan wurde der Ton am Funk des Briten immer rauer, weil er 1,5 bis zwei Sekunden zu langsam fuhr: "Du musst zulegen. Das ist ein Befehl!" hörte er von seinem Kommandostand, bis sich schließlich sogar Technikchef Paddy Lowe einmischte und seine "Anweisung" an Hamilton persönlich übermittelte. Denn das Team war auf den Doppelerfolg aus, und Sebastian Vettel (Ferrari) kam auf Supersoft-Reifen bedrohlich nahe und schnappte sich schließlich auch Rang drei von Verstappen.
Bummel-Lewis "untergräbt" das Team
Doch Hamilton wollte seine einzige Chance auf den Titel unbedingt ergreifen: "Lasst uns doch einfach das Rennen fahren", blaffte er zurück und schob später ein "ich bin doch vorne" hinterher. Der Doppelerfolg für Mercedes interessierte ihn nicht die Bohne, denn dann würde er seinen Traum vom WM-Titel freiwillig aufgeben. "Ich verliere gerade meinen Titel. Es ist mir egal, ob ich das Rennen gewinne oder verliere", sah er die Felle im Laufe davonschwimmen.
"Lewis tut alles, um die Weltmeisterschaft zu gewinnen", erklärt Motorsportchef Toto Wolff hinterher und ist wenig begeistert: "Wir haben dann den Rennsieg in Gefahr gesehen." Doch Hamilton verteidigt seine Taktik: "Es ging nicht darum, einfach an der Spitze zu sein und das Rennen anzuführen. Ich musste es versuchen. Mit all den Schwierigkeiten in der Saison bin ich jetzt leider in dieser Position", so der Brite. "Ich bin jetzt gespannt, was mir alle zu sagen haben, wenn ich jetzt ins Motorhome gehe."
Das dürfte nicht positiv ausfallen: "Es geht hier um viel. Es geht nicht darum, ob er seine Entscheidung für sich trifft. Sondern er untergräbt die gesamte Struktur des Teams und alles, was wir machen", ärgert sich Wolff im Nachhinein über die Taktikspielchen seines Piloten und trifft damit den Nerv von Aufsichtsratsvorsitz Niki Lauda: "Da müssen wir uns nochmal zusammensetzen und überlegen, was daran schuld war. Vielleicht war es das Auto, aber ich fürchte, es war der Lewis."
Rosberg: "Hat keinen Spaß gemacht"
Fast wäre die Taktik von Hamilton aufgegangen, denn hinter Rosberg lauerten schon Vettel und Verstappen. Der Deutsche war im Sandwich gefangen. Er durfte nicht beide vorbeilassen oder mit einem von ihnen kollidieren. "Ich wusste, wenn ich hinter sie zurückfalle, würde ich alles verlieren. Das hat keinen Spaß gemacht", sagt Rosberg hinterher und lacht über Verstappen: "Wirklich ekelhaft, dass ich den schon wieder getroffen hab auf der Strecke irgendwo. Ich dachte, heute sehe ich den nicht mehr."
Doch Vettel fand trotz seiner Supersoft-Reifen keinen Weg mehr an Rosberg vorbei. Zaghaft linste er mal aus dem Rückspiegel seines Landsmannes heraus, doch einen konkreten Angriff gab es von seiner Seite nicht mehr. Und da auch Verstappen mit abbauenden Reifen zu kämpfen hatte, war die ganz große Gefahr in der ultimativen Schlussphase nicht mehr gegeben. "Der war dann am Ende zu langsam, aber das hätte für Nico ins Auge gehen können", sagt Wolff.
Und so fuhr Rosberg schließlich denkbar knapp hinter Lewis Hamilton ins Ziel, der letztlich die Teamvorgaben mit dem Doppelerfolg unfreiwillig erfüllte, damit seinen vierten WM-Titel aber verlor. "Das Rennen würde so oder so hart werden durch die Punktesituation. Wir wussten, dass es eine mögliche Situation wäre, dass Lewis gewinnt und Nico die Meisterschaft gewinnt", meint Paddy Lowe im Nachhinein. "All diese Spannung, mit vier Autos innerhalb von zwei Sekunden am Ende. Das war ein großartiges Spektakel für alle."
Und so gab es am Ende einen Gewinner, der trotzdem der große Verlierer war. Selten dürfte Lewis Hamilton ein Sieg so egal gewesen sein, wie an diesem Tag. Er hat alle möglichen Karten ausgespielt und seine Asse im Ärmel gezogen, doch Rosberg hatte an diesem Tag eben den Joker auf seiner Hand und diesen in aller Ruhe eingesetzt. "Nico hatte eine höhere Pace, ist aber ganz cool geblieben, sogar unter Druck", lobt Wolff. "Es ist absolut verdient."