Bei Mercedes hat man inzwischen eine Erklärung, warum Lewis Hamilton und Nico Rosberg in Singapur dermaßen unter die Räder kamen und man in Suzuka Favorit ist
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Singapur brachte für Mercedes ein böses Erwachen: Ferrari und Red Bull waren für die dominanten Silberpfeile plötzlich völlig außer Reichweite, stattdessen kämpfte man mit dem Kundenteam Williams, das normalerweise auf langsamen Strecken nur bedingt konkurrenzfähig ist. Doch wie ist das möglich? Wie kann aus dem Rennstall, der die Formel 1 seit 2014 im Würgegriff hält, von heute auf morgen ein Statist werden?
Selbst Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzender Niki Lauda verstand die Welt nicht mehr. "Wisst ihr, was mich am meisten erschüttert?", spricht er gegenüber der 'Gazzetta dello Sport' seine Gedanken aus. "Dass wir Singapur verlassen haben, ohne zu verstehen, was uns eingebremst hat. Und gleichzeitig sehen wir ein Ferrari-Team, das seit Jahren nicht mehr so stark war."
Die WM sei zwar noch nicht völlig offen, da Hamilton nach wie vor 49 Punkte Vorsprung auf Vettel hat, "aber es muss nur noch ein Rennen schieflaufen, und Ferrari ist da und kann mit Vettel profitieren".
Hamilton ohne Vertrauen? "Falsch zitiert..."
Während Lauda der Schweiß noch im Gesicht steht, hat man hinter den Kulissen das Trauma bereits überwunden. Weil man Erklärungen gefunden hat. "Singapur ist eine sehr eigene Strecke, und sie war auch im Vorjahr unsere große Schwäche", erklärt Nico Rosberg. "Wir verstehen nun, dass einige Dinge suboptimal waren, in vielen Bereichen. Es ist aber immer noch das gleiche Auto, das gleiche Team - also das Vertrauen ist da, hier ein gutes Wochenende zu erleben."
Lewis Hamilton schlägt in die gleiche Kerbe. Der Brite wurde vor einigen Tagen zitiert, dass er nach der überraschenden Pleite in Singapur das Vertrauen in sein Team verloren habe, weil es ihm an Informationen fehle, dementiert dies aber nun gegenüber 'Sky Sports F1' energisch: "Ich wurde falsch zitiert. Warum sollte ich das Vertrauen verlieren? Wir hatten unglaubliche Erfolge, gewannen in den vergangenen zwei Jahren 20 Rennen. Und jetzt hatten wir ein schwieriges Rennen."
Weltmeister wischt Verschwörungstheorie vom Tisch
Nach Singapur wurde spekuliert, dass die neuen Pirelli-Restriktionen in Sachen Reifendruck und -Sturz Mercedes aus dem Konzept gebracht haben könnten. Sogar von einer Verschwörung war die Rede: Formel-1-Boss Bernie Ecclestone könnte Pirelli gebeten haben, härtere Reifen an Mercedes zu liefern, damit wieder mehr Salz in der Suppe ist.
Hamilton winkt ab: "Ich glaube nicht an all diese Verschwörungstheorien. Ich glaube, das ist auf technische Gründe zurückzuführen, und wir hätten bessere Arbeit leisten können. Die anderen waren besser." Zumal sich das Auto nicht schlecht anfühlte: "Es war nicht so, dass wir einmal viel und dann weniger Grip hatten, sondern es war das ganze Wochenende gleich." Rosberg ergänzt: "Wenn ich die Rundenzeit nicht gesehen hätte, dann hätte ich mit der Pole gerechnet."
Lowe liefert Erklärung: DNA des F1 W06 als Auslöser
Die Antwort, warum Mercedes in Singapur so schwächelte, liefert schließlich der Technikverantwortliche Paddy Lowe: Der F1 W06 passte einfach nicht zum winkeligen Stadtkurs in Singapur. "Die Aero-Charakteristik unseres Autos ist auf Effizienz ausgelegt - also maximaler Abtrieb bei möglichst wenig Luftwiderstand", erklärt der Brite gegenüber 'auto motor und sport'. "Deshalb sind wir auf Strecken wie Suzuka oder Spa so stark. Und deshalb tun wir uns auf Strecken so schwer, wo nur maximaler Abtrieb verlangt wird." Strecken wie der Hungaroring, Monte Carlo oder Singapur.
In Ungarn siegte Vettel im Ferrari, doch in Monaco erwies sich Mercedes als stärkste Kraft. Deswegen war das Team beim Nachtrennen im Stadtstaat auch so überrascht, dass es nicht lief. Im Nachhinein weiß man: Die Überraschung war eher, dass es im Fürstentum an der Cote d'Azur so gut lief.
Setup-Fehler und keine Update-Flaute als Verstärker
"Seit die Windkanalzeit limitiert ist, musst du dich entscheiden, wo du deine Prioritäten setzt", geht Lowe ins Detail, warum der Mercedes entgegen der ersten Annahmen keine eierlegende Wollmilchsau ist. "Die verbleibenden Kapazitäten haben wir auf Monza und Spa gelegt. Die Stadtkurse sind dabei hinten runter gefallen."
Diese chronische Schwäche in Singapur hat dann - wie Hamilton sagt - zu einer "Kettenreaktion" geführt: Da der Anpressdruck fehlte, wurde das Innere des Reifen nicht ausreichend erhitzt, während die Oberfläche überhitzte. "Dazu haben wir Fehler beim Setup gemacht", gibt Lowe zu. Und zu allem Überdruss brachte man im Gegensatz zur Konkurrenz kein Aerodynamik-Update nach Singapur.
Auch der Konkurrenz scheint inzwischen bewusst zu sein, dass man die Hoffnung, Mercedes habe seine Überlegenheit verloren, wohl begraben wird müssen. "Mercedes wird der Favorit bleiben", sagt Singapur-Sieger Vettel. "Es war schon eine große Überraschung, dass Mercedes Probleme hatte. Ich denke nicht, dass das hier auch der Fall sein wird, es wäre wieder eine große Überraschung."
Mercedes-Rivalen vor Suzuka vorsichtig
Und Red-Bull-Ass Daniel Ricciardo, der in Singapur starker Zweiter wurde, sieht zwar noch ein "kleines Fragezeichen", rechnet aber damit "dass sie zur gewohnten Form zurückkehren". Der "Aussie" erinnert sich daran, dass Mercedes im Jahr 2013 im Qualifying stark war, aber in den Rennen meist Reifenprobleme hatte, glaubt aber nicht an einen Zusammenhang.
"Im vergangenen Jahr war das ganz anders, und auch in diesem Jahr hat man so etwas bislang nicht gesehen", ist Ricciardo bewusst. "Singapur war ganz untypisch für sie. Ich bin mir sicher, dass es viele Theorien zu den Gründen gibt. Es war eine schöne Abwechslung, aber ich gehe davon aus, dass sie zurückschlagen werden."
Daran hat man inzwischen auch bei Mercedes keine wahren Zweifel mehr, zumal das Team mit neuen Flügeln und einer überarbeiteten Heckverkleidung in Suzuka aufkreuzte. "Ich rechne mit einem normalen Wochenende", meint WM-Leader Hamilton unaufgeregt.