Wie "Reifenflüsterer" Kimi Räikkönen in Melbourne zum Sieg fuhr und warum er sich vor der Hitzeschlacht in Malaysia sogar selbst zu den WM-Favoriten zählt
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Kimi Räikkönen ist wahrlich kein Mann der großen Worte, aber seine erste Reaktion nach dem Sieg beim Grand Prix von Australien grenzte - für finnische Verhältnisse - schon fast an einen Gefühlsausbruch: "Ich hab' euch doch gesagt, dass das Auto gut ist", funkte er seinen Ingenieuren an die Box - fast so, als hätten diese nach dem siebten beziehungsweise achten Platz im Qualifying am Vormittag nicht daran geglaubt.
Einem war immer schon klar, dass Lotus zumindest ein Geheimfavorit ist: "Ich war bei den Testfahrten in Jerez. Und nach den ersten paar Runden habe ich gesagt: 'Dieser Lotus gefällt mir!'", erklärt Experte Marc Surer. "Die Fahrer kamen nämlich mit wenigen Lenkbewegungen durch die Kurve. Das Auto lag von Anfang an sehr gut. Das scheinen sie nach Melbourne mitgenommen zu haben. Der erste Eindruck war also richtig."
Doch nicht nur der konstante Speed des E21 war heute Schlüssel zum Erfolg, sondern vor allem die Strategie: Während etwa Jenson Button schon nach vier Runden zum Reifenwechsel kam, hielt der erste Satz Supersoft bei Räikkönen bis in die neunte Runde - und als er in der 34. Runde immer noch 13,4 Sekunden Vorsprung auf Verfolger Fernando Alonso hatte, dämmerte bei noch 24 zu absolvierenden Runden auch den Letzten, dass es sein letzter Boxenstopp bleiben würde.
49 Runden mit zwei Medium-Reifensätzen
Mit dem ersten Satz Medium hatte der Weltmeister von 2007 nämlich schon 25 Runden geschafft, sodass Alonso, der ebenfalls noch einmal an der Box erwartet wurde, die Zeit effektiv auf der Strecke aufholen musste. Ist der Lotus also der neue "Reifenflüsterer" der Formel 1? "Wir wussten ziemlich genau, was möglich ist, und wir wissen, dass unser Auto die Reifen schont", so Teamchef Eric Boullier gegenüber 'Motorsport-Total.com'.
Man habe "mit zwei bis drei Boxenstopps" gerechnet, aber im Rennen sei der Abbau dann niedriger als erwartet gewesen: "Nach Kimis zweitem Stint dämmerte uns, dass zwei reichen könnten. Als wir die Dreistoppstrategien der anderen realisierten, war das natürlich eine gute Nachricht, also schonten wir die Reifen und behielten den Verkehr genau im Auge, um Kimi zur richtigen Zeit an die Box holen zu können."
Räikkönen kam 11,5 Sekunden hinter Alonso wieder auf die Strecke und hatte vor dem letzten Boxenstopp des Ferrari-Superstars schon bis zu 15,5 Sekunden Rückstand. Dieser schrumpfte dann durch eine Serie von schnellen Alonso-Runden auf bis zu 3,9 Sekunden zusammen - aber ab Runde 44 hatte der "Iceman" das Rennen im Griff. Dass seine Medium-Reifen um sieben Runden mehr auf dem Buckel hatten als jene von Alonso, konnte ihm im Finish nichts anhaben.
"Ich hatte schon am Freitag ein gutes Gefühl - da hatten wir das beste Setup. Wir mussten nur etwas umstellen, damit die Vorderreifen halten, aber ich war zuversichtlich", berichtet Räikkönen von den ermutigenden Longruns am ersten Tag des Wochenendes. Die Restzweifel wurden jedoch erst heute ausgeräumt: "Natürlich kannst du nie wissen, was die anderen Teams beim ersten Rennen machen oder wie viele Runden du mit einem Reifensatz schaffst."
Räikkönen nimmt Favoritenrolle an
Dass er jetzt in den Medien als Titelkandidat gehandelt wird, ist dem 33-Jährigen klar: "Muss man wohl ja sagen, wenn man das erste Rennen gewinnt! Aber wie gesagt: Es war erst das erste von 19 Rennen - zwei schlechte Rennen, schon sieht die Welt ganz anders aus. Wir müssen gut arbeiten und versuchen, so wenige Fehler wie möglich zu machen, immer auf das Podium zu fahren. Dann haben wir eine gute Chance."
Auch beim Hitzerennen in einer Woche in Malaysia, das dem E21 laut Boullier "sogar noch besser" liegen müsste, was die Haltbarkeit der Reifen im Vergleich zur Konkurrenz angeht. 2012 war Hitze jedenfalls kein Problem für Lotus - siehe Abu Dhabi. Aber: "Es ist noch früh - erst nach zwei, drei Rennen kann man sagen, wo wir stehen. Stimmt, dass wir im Vorjahr in der Hitze besser waren als im Kalten. Hoffentlich ist es dieses Jahr genauso", wünscht sich Räikkönen.
"Das ist der beste Anfang", hält er fest. "Wir waren schon in Barcelona sehr glücklich mit dem Auto und konnten es hier weiter verbessern. Es war das ganze Wochenende sehr gut. Der siebte Platz im Qualifying war ein bisschen enttäuschend, aber da waren die Bedingungen halt auch nicht die einfachsten. Ich wusste, dass ich eine Chance auf das Podium habe, wenn ich durch die erste Runde komme. Am Ende war es dann gar nicht so schwierig."
Rosberg vom Anfangstempo beeindruckt
In der ersten Runde lag Räikkönen noch an sechster Stelle, doch mit einigen Gegnern machte er kurzen Prozess: "Räikkönen ist losgefahren wie ein Wahnsinniger", staunt Nico Rosberg nicht schlecht. "Ich dachte: Wir müssen doch alle Reifen schonen, was macht denn der? Aber anscheinend hat er das Tempo durchgehalten." Experte Surer analysiert: "Mit vollem Tank lag der Lotus besser. Kimi hat einen sehr feinen Fahrstil. Bei ihm sieht man es gar nicht, wenn er schnell fährt."
"Für mich ist Kimi keine Überraschung", sagt der ehemalige Formel-1-Pilot aus der Schweiz. "Er hat ja schon im vergangenen Jahr ein Rennen gewonnen, er hat auch lange Zeit um die WM gekämpft." Aber Surer warnt davor, Räikkönen schon jetzt zum Titelfavoriten zu stilisieren, denn: "Ich traue es dem Team nicht wirklich zu. Man weiß nicht, ob Lotus mit der Finanzierung das Entwicklungstempo der anderen Rennställe mitgehen kann."
"Für mich ist auch das erste Rennen nicht unbedingt aussagekräftig", ergänzt er. "Es ist ja auch keine permanente Strecke. In Malaysia sind die Chassis gefordert. Da wird gecheckt: Welches Auto ist wie schnell? Erst nach Malaysia kann man sagen, wer das beste Auto hat. Deshalb freue ich mich auf Malaysia. Das ist die Strecke der Wahrheit." Mit vielen schnellen Kurven und höheren Temperaturen also eine ganz andere Nummer als Melbourne.
Wichtiger Sieg für die Team-Kriegskasse
Doch Teamchef Boullier ist das momentan egal: "Ich freue mich für meine Sponsoren", sagt der Franzose, dessen Team im vergangenen Winter wegen des geplatzten Honeywell-Sponsorendeals finanziell unter Druck geraten ist. "Dieser Sieg beweist, dass wir es ernst gemeint haben, als wir vor zwei Jahren angetreten sind, um wieder ein Topteam zu werden. Das sind wir jetzt. Von Jahr zu Jahr können wir um mehr Siege und Podestplätze kämpfen - und genau das war unser Ziel."
Mit zwei Siegen in den vergangenen vier Rennen scheint sich Lotus ernsthaft als Topteam etabliert zu haben, aber Boullier ist das noch nicht genug: "Wir werden versuchen, noch mehr Rennen zu gewinnen", kündigt er lachend an - und das noch vor seinem ersten Telefonat mit Genii-Capital-Chef Gerard Lopez, der selbst nicht nach Australien gejettet ist: "Ich habe 80 Nachrichten auf meinem Handy. Eine davon ist sicher von Gerard..."
Übrigens: Prima klappt auch die Zusammenarbeit zwischen Räikkönen und Renningenieur Mark Slade - kein "I know what I'm doing" heute in Melbourne. "Es gab einen Funkspruch von seinem Renningenieur", schmunzelt Surer. "Er meinte: 'Sag uns, was du willst!' Er hat also nicht dem Fahrer gesagt, was zu tun ist, sondern er hat gefragt. Das war typisch. Wenn Kimi gesagt bekommt, was er zu tun oder wie er zu fahren hat, nervt ihn das ja!"