Lewis Hamilton und Niki Lauda poltern nach der Reifenplatzer-Orgie von Silverstone am lautesten gegen Pirelli - Ursachenforschung jetzt im Vordergrund
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Aus Sicht von Reifenhersteller Pirelli war der heutige Grand Prix von Großbritannien ein schwarzer Sonntag. Gleich vier Reifenplatzer, jeweils links hinten, waren live in der TV-Übertragung zu sehen; ein weiterer Reifenschaden bei Esteban Gutierrez sowie ein schleichender Plattfuß bei Nico Hülkenberg wurden von den Kameras gar nicht eingefangen. Jetzt befindet sich der ohnehin schon in der Kritik stehende Reifenhersteller aus Italien mit dem Rücken zur Wand.
Während der ersten Safety-Car-Phase stand das Rennen am Rande eines Abbruchs, weil binnen sieben Runden drei Reifen platzten und niemand wusste warum. Aus Fahrersicht der reinste Albtraum: "Man verliert die Kontrolle über das Auto, muss einen Dreher verhindern. Es ist richtig gefährlich", schimpft etwa Lewis Hamilton, das erste Opfer des heutigen Tages. "Ich frage mich, warum ich mein Leben wegen diesen verdammten Reifen aufs Spiel setze! Die Reifenschäden machen mir große Sorgen. Da muss etwas passieren."
Auch Niki Lauda spart nicht mit Kritik an Pirelli. Vor allem die erste Erklärung, dass die Reifen allesamt an den Randsteinen aufgeschnitten worden sein könnten, möglicherweise kombiniert mit einem Überhitzungsproblem, empfindet der Vorsitzende des Mercedes-Team-Aufsichtsrats als plumpe Ausrede: "Ich kann diese dumme Diskussion mit den Curbs nicht mehr hören! Die Curbs sind auf allen Rennstrecken der Welt. Die haben sich nicht verändert, alle müssen drüberfahren. So ist das, dafür sind sie ja da. Das jetzt als Grund zu sehen, finde ich grundsätzlich falsch."
Katastrophe nicht ausgeschlossen
"Man braucht Reifen, mit denen man die ganze Rennstrecke befahren kann - auch die Curbs, denn die gehören zur Rennstrecke dazu. Wenn die Reifen das nicht können, dann muss man nicht die Curbs ändern, sondern man muss die Reifen ändern", poltert Lauda gegenüber 'RTL'. Zumal explodierende Reifen auch in einer Katastrophe enden können - etwa wenn hinterherfahrende Piloten von Gummistücken am Kopf getroffen werden oder wenn es bei Geschwindigkeiten jenseits der 300 km/h zu einem unkontrollierbaren Abflug kommt.
"Da kannst du tot sein! Wenn dir das bei den Geschwindigkeiten auf den Sturzhelm knallt, reißt es dir das Genick ab. Das unterschätzt hier jeder", bringt Lauda das Gefahrenpotenzial auf den Punkt. "Wenn die Reifenschäden in einer Kurve passieren, dann fliegt der ab mit seinem Auto. Die haben alle Glück gehabt, dass es auf der Gerade passiert ist. Aber irgendwann hört der Spaß auf." Daher sei nun die Fahrergewerkschaft GPDA gefordert: "Die Fahrer sollten sich jetzt zusammentun und generell fordern, dass dieses Problem gelöst wird."
Treffer am Helm könnte fatal enden
"So ein Reifenstück ins Gesicht zu bekommen, das sind ja Kräfte, die sind unglaublich", stimmt Experte Marc Surer zu. "Das ist das Schlimmste, was einem Fahrer passieren kann, wenn an einem Auto was kaputt geht und man praktisch hilflos ist und die Kontrolle verliert. Lewis konnte das Auto zum Glück kontrollieren, aber Massa ist von der Strecke geflogen. Das hätte auch eine andere Stelle sein können. Das sind Dinge, die kann ein Fahrer nicht beeinflussen, selbst wenn er noch so gut Autofahren kann. Das ist Horror! Das sind Momente, die braucht man als Fahrer wirklich nicht."
Fernando Alonso etwa hatte seine Schrecksekunde hinter Sergio Perez, mit dem es deswegen beinahe zum Hochgeschwindigkeits-Crash gekommen wäre: "Es ist mitten auf der Gerade passiert, bei sehr hohem Tempo. Ich wollte nach rechts ziehen, um an der Seite an ihm vorbeizugehen. Ich hatte großes Glück. Wenn ich es links versucht hätte, dann wären mir womöglich die ganzen Reifenfetzen entgegengeflogen. Das will niemand erleben. Aber wir können nichts machen und haben keine Ahnung. Die Fragen muss Pirelli beantworten", meint der Spanier.
Genau wie Lauda glaubt auch er die Randstein-Version nicht: "Ganz ehrlich: Ich konnte die Randsteine überhaupt nicht meiden. Ich war in ständigen Kämpfen. Immer fährt man in der verwirbelten Luft. Dann hat man nicht immer vollständig unter Kontrolle, wie man das Auto am Kurvenausgang positioniert bekommt. Ich glaube auch gar nicht, dass die Randsteine etwas damit zu tun haben. Wir fahren seit so vielen Jahren in Silverstone und die Randsteine waren noch nie ein Problem. Ich glaube nicht, dass diese Probleme plötzlich in diesem Jahr auftreten", sagt Alonso.
Hembery geht den Medien aus dem Weg
Bei Pirelli ist man indes vorsichtig geworden: Sportchef Paul Hembery stellte sich nach dem Rennen zwar den Medien, brach das Gespräch aber nach einer Minute ab, weil er vor einer eingehenden Untersuchung ohnehin nichts sagen könne. "Das, was wir heute erlebt haben, war wieder etwas ganz Neues", erklärt er. "Wir analysieren das nun. Wir müssen verstehen, was da passiert ist, dann können wir erklären, was die Ursache für die Schäden war. Wir nehmen die Probleme sehr ernst. Wenn wir die Antworten haben, dann geben wir mehr bekannt."
Wie ernst die Lage ist, beweist die Tatsache, dass Hembery und ein weiterer Pirelli-Mitarbeiter von FIA-Präsident Jean Todt höchstpersönlich zu einem Krisengipfel zitiert wurde. FIA-Rennleiter Charlie Whiting geleitete die Pirelli-Vertreter ins FIA-Motorhome. Nach dem Gespräch verschwand Hembery durch den Hinterausgang, um den vor der Tür wartenden Journalisten aus dem Weg zu gehen. Aber Mercedes-Sportchef Toto Wolff versteht diese Position: "Wir sollten noch nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen, sondern erst analysieren, was genau passiert ist."
Brawn mahnt zur Zurückhaltung
Den Wutausbruch von Hamilton kann er durchaus verstehen: "Es ist natürlich höchst unerfreulich, wenn dir riesengroße Trümmerteile entgegenfliegen und du denen ausweichen musst. Das kann nicht sein", stellt Wolff klar. Aber auch Teamchef Ross Brawn bleibt vorerst zurückhaltend: "Das müssen wir uns sicherlich anschauen. Mir fehlen noch wichtige Informationen, daher kann ich derzeit nicht mehr dazu sagen. Fest steht, dass man es sich ganz genau anschauen muss. Danach müssen wir Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt."
Jean-Eric Vergne, auch eines der Pirelli-Opfer, fordert, dass "schon bald" etwas passieren muss, denn das heutige Rennen rege ihn "sehr" auf. Aber was wären denn schnelle Lösungsansätze im Sinne der Sicherheit? "Im Vorjahr hat alles funktioniert", gibt Lauda zu Protokoll. "Erster Vorschlag wäre, zu sagen: 'Ab Budapest wollen wir, dass Pirelli mit den Vorjahresreifen kommt.' Die sind eine bekannte Größe, um es klar auszudrücken. Das wäre der erste Schritt in die richtige Richtung. Dann soll Pirelli weiterentwickeln."
Lauda sieht Pirelli jedenfalls in der Pflicht: "Da muss der Chef von Pirelli sagen: 'Ich will mir das für meine Reifen nicht mehr antun. Punkt. Findet eine Lösung - und zwar schnell!'", so der Österreicher. "Für den Nürburgring kann man natürlich nichts mehr tun, das ist ganz logisch. Aber für Budapest muss man jetzt eine Lösung fordern, und ich glaube, dass das technisch möglich ist. Aber Pirelli muss sich das überlegen, muss das einsehen. Man muss zu allen Teams sagen: 'Regeln hin oder her, wir bringen nach Budapest andere Reifen.'"