Mercedes und Ferrari sind die haushohen Favoriten, doch neue Reifenregeln und ein umstrittenes Qualifying-Format sorgen für Würze beim Auftakt in Australien
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Noch viermal schlafen, dann startet die Formel-1-Saison 2016: Am kommenden Wochenende steht mit dem Australien-Grand-Prix in Melbourne das Auftaktrennen zur 67. Weltmeisterschaft in der Geschichte der Königsklasse an . Mit Spannung erwartet wird die Titelverteidigung Lewis Hamiltons und Mercedes' nicht nur wegen der größeren Konkurrenz durch Sebastian Vettel und der Ferrari-Mannschaft, sondern auch wegen neuer Reifenregeln und des überarbeiteten Qualifyings.
Dass die Silberpfeile im Albert Park wieder den Ton angeben, ist wahrscheinlich, aber keinesfalls gewiss. Bei den verkürzten Testfahrten ließ weder Hamilton noch Teamkollege Nico Robserg durchblicken, wie schnell der neue W07 wirklich ist, wenn eine weiche Reifenmischung auf den Achsen steckt und wenig Sprit im Tank ist. Ferrari hingegen landete in Barcelona fünf von acht Tagesbestzeiten und toppte die Testwochen mit Spitzenwerten - erst durch Vettel, dann durch Kimi Räikkönen.
Dass Mercedes dank Entwicklungsbeschränkungen die Nase in Sachen Antrieb vorne haben dürfte, verdeutlichten die übrigen Ergebnisse: War die Phalanx der beiden Werksmächte zu sprengen, war, dann nur durch Autos mit V6-Hybrid-Power aus Brixworth - nämlich Williams mit Valtteri Bottas und Force India mit Nico Hülkenberg. Die Privatiers könnten das Feld hinter den Topfavoriten in Silber und Rot anführen, jedoch scheinen auch die beiden Red-Bull-Teams wieder formverbessert.
Favoritenrolle unbeliebt: Mercedes und Ferrari zurückhaltend
Die Protagonisten halten sich bedeckt, wenn es um das Kräfteverhältnis in der Startaufstellung geht: "Ferrari hat zu alter Stärke gefunden. Vettel ist ein gefährlicher Gegner", warnt der Mercedes-Vorstandvorsitzende Niki Lauda im Gespräch mit 'Auto Bild motorsport'. Auch Rosberg richtet die Augen in den Rückspiegel: "Wenn man so stark ist, dann fangen die anderen an, unsere Lösungen zu kopieren. Dadurch kommen sie näher. Wir denken, es wird extrem eng. Wir müssen vorsichtig sein."
Deutlich optimistischer klingt Lewis Hamilton: "Die Testfahrten waren absolut unglaublich - soweit ich mich erinnern kann, waren es die besten in meiner Karriere", erklärt der Brite. "Das Auto fühlt sich noch besser an", vergleicht er den W07 mit seinem Vorgänger, sieht sich als Titelverteidiger aber unter Druck. "Ich muss definitiv etwas nachlegen, da die Konkurrenz in diesem Jahr stärker denn je sein wird."
Mit einer revolutionären Nase, weiteren Technikclous der W07 und der viel beschworenen, neuen Zuverlässigkeit könnte sich Mercedes jedoch an der Spitze behauptet haben. Die Standfestigkeit könnte die Achillesferse des jüngsten Ferrari-Pferdchens SF16-H sein, schließlich spulten die Roten bei den Testfahrten deutlich weniger Kilometer ab als die Silberpfeile. "Unser Auto ist ein deutlicher Schritt. Es geht in Richtung 'viel besser'", findet Vettel, bleibt mit Kampfansagen aber sparsam. "Unser Ziel ist es, besser zu sein als im vergangenen Jahr", erklärt der Deutsche.
Williams, Red Bull oder Force India: Wer ist "Best of the Rest"?
Messen lassen wird sich die Scuderia jedoch an den Äußerungen ihres Bosses Sergio Marchionne, der ein siegfähiges Auto in Australien forderte. Dass diese Zielvorgabe keine Traumtänzerei wäre, unterstreicht Maurizio Arrivabene: "Es wäre eine Enttäuschung, wenn unser neues Auto nicht in der Lage sein sollte, Mercedes zu schlagen", legte der Teamchef die Latte bereits vor den Testfahrten sehr hoch. Gut möglich, dass sich der Erfolg Vettels und Co. bereits im Qualifying erkennen lässt: Das Tempo auf einer schnellen Runde war 2015 Schwachpunkt der Italiener, die elimiert worden sein soll.
Bei der bis dato dritten Kraft Williams schienen die Verantwortlichen ihr Tun darauf ausgerichtet zu haben, die Verfolgerrolle zu konsolidieren. Der FW37 wurde nur zaghaft überarbeitet. Hat Renault die Zuverlässigkeit seiner Triebwerke verbessert, könnte Red Bull sich in Melbourne zum "Best of the Rest" mausern. Allerdings ließ zuletzt Force India mit innovativem Auto und einer Tagesbestzeit aufhorchen. Nico Hülkenberg geht mit breiter Brust in die Saison. Er erklärt: "Ich will mindestens das erste Podium."
Große Fortschritte soll auch die Red-Bull-Juniortruppe Toro Rosso verzeichnet haben, schließlich wechselte die mit einem guten Chassis ausgestattete Mannschaft von Renault-Hybriden zu Ferraris Vorjahrestriebwerken und könnte ohne eigenes Zutun Fortschritte gemacht haben - vorausgesetzt, die Integration der Maranello-PS ist gelungen. Bei McLaren-Honda hingegen zeichnete sich ein neuerliches Debakel ab: Eric Boullier räumte bereits ein, für Australien "nicht optimal vorbereitet" zu sein und rechnet mit einem "nicht einfachen" Start. Sein Pilot Jenson Button spricht von einer "Herausforderung".
Debütantenball mit Haas und Pascal Wehrlein
Noch hinter Sauber und Lotus-Nachfolger Renault - erstmals seit 2011 mit einem Werksteam am Start - werden sich wohl der US-Neueinsteiger Haas und Dauer-Schlusslicht Manor einsortieren. Die Ferrari-Kundenmannschaft um Teamchef Günther Steiner plagten in Barcelona technische Probleme, dennoch spricht der Südtiroler von dem Ziel, um WM-Punkte zu fahren. Bei Manor gelten die Hoffnungen DTM-Champion Pascal Wehrlein, der in Melbourne sein Formel-1-Debüt feiert. "Ich bin mehr als bereit", sagt der Mercedes-Junior, der neben Teamkollege Rio Haryanto und Renault-Mann Jolyon Palmer einer von drei Rookies der Saison 2016 ist.
Auf die willkommene Gelegnehit, bei Wetterkapriolen für eine Sensation zu sorgen, müssen die Außenseiter wohl zumindest im Rennen verzichten. Erste Prognosen für das Wochenende sagen zwar für die zwei Freien Trainings am Freitag eine Regenwahrscheinlichkeit von bis zu 90 Prozent voraus, doch schon zum Qualifying am Samstag soll die Strecke wieder trocken sein. Für den Sonntag werden sonnige Bedingungen erwartet, wobei die Temperaturen im australischen Sommer bei bis zu 24 Grad Celsius in der Spitze keine Hitzeschlacht versprechen.
Down Under viel Neues: Reifenregeln und "Reise nach Jerusalem"
Das wiederum verspricht Strategieschach mit den neuen Reifenregeln : Im Gegensatz zum Vorjahr haben die Rennställe dieses Jahr drei statt zwei Reifenmischungen zur Auswahl - neben Soft und Medium darf in Melbourne auch der weiche Supersoft-Gummi eingesetzt werden, während der neue Ultrasoft-Pneu bis Monaco warten muss. "Wir rechnen damit, dass den Teams deutlich mehr Strategiemöglichkeiten offenstehen", erklärt Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery.
Nicht nur bei den Mannschaften divergiert die Reifenwahl, auch den Piloten gibt es neuerdings Unterschiede: Bei Mercedes entscheid sich Rosberg für einen Satz der härteren Mischung mehr als Hamilton, der lieber eine Soft-Reserve in petto hat. Ferrari agierte mit beiden Piloten wie der Vizeweltmeister, während die Verfolger Williams und Red Bull mehr Supersoft bestellt haben.
Es wird klar: Die Topteams können es sich erlauben, im Qualifying weiche Pneus zu sparen und sichern sich lieber für das Rennen Reserven bei der vielseitigeren Soft-Mischung. Allerdings fiel die Wahl vor Beschluss des neuen Qualifying-Formats, was Mercedes und Ferrari möglicherweise dazu bewogen hätte, weniger zu pokern. Denn der neue Modus für die Vergabe der Startplätze ist ein Fragezeichen.
Melbourne-Sieg: Halbe Miete auf dem Weg zum WM-Titel
Die dreiteilige "Reise nach Jerusalem" mit dem Ausscheiden von Piloten im 90-Sekunden-Takt könnte für zusätzliche Spannung sorgen - und auch zu Überraschungen führen, wenn Unterbrechungen oder doch Regen dafür sorgen, dass Favoriten plötzlich unter Druck geraten, schließlich erhöht das Format das Risiko beim Sparen von Reifensätzen. "Es liegt mehr Druck auf uns. Man muss sofort eine gute Runde schaffen. Vielleicht ist die Anspannung größer", meint Daniel Ricciardo. Er befindet aber: "Das Ganze wird bei trockenen Bedingungen nicht viel verändern."
Altbekannt sind auch die Setupanforderungen im Albert Park , der seit 1996 ununterbrochen zum Formel-1-Rennkalender zählt: Gefragt sind auf dem Kurs mit mittellangen Geraden und harten Bremspunkten Beschleunigung und eine gute Verzögerungsleistung. Hinzu kommen langsame Kurven, was das Augenmerk auf mechanischen Grip und mehr Abtrieb richtet. Das Layout belastet den linken Hinterreifen besonders, jedoch ist dank einer glatten Asphaltdecken auf den sonst öffentlichen Straßen der Verschleiß auf geringem Niveau. Dafür werden die Bremsen besonders gefordert, der Spritverbrauch ist trotz nur 61 Prozent Vollgasanteil so hoch wie sonst nur auf zwei weiteren Kursen.
Wer es als Rennfahrer mit guten Omen hält, sollte am Sonntag übrigens einen besonders schweren Gasfuß haben: Bei 20 Rennen in Melbourne wurden zwölf Sieger im gleichen Jahr Weltmeister. Besondere Mission für Daniel Ricciardo als einziger Lokalmatador im Feld: Kurioserweise schaffte es seit der Premiere 1984 in Adalaide nicht ein einziger Australier, auf heimischem Terrain auf dem Podium zu stehen. Während Michael Schumacher (vier Siege) zur WM zählende Australien-Grands-Prix so häufig gewann wie kein anderer Pilot, ist McLaren-Mann Button (3) der erfolgreichste unter den Aktiven.