Wie Mika Häkkinen das vielleicht spektakulärste Überholmanöver aller Zeiten plante und wieso er nach seinem großen Triumph sauer auf Michael Schumacher war
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Bloß drei WM-Punkte waren es, die er in 36 Grands Prix holte. Und neben dem verwegen provokanten Champion Jacques Villeneuve war er im BAR-Team ein farbloser Statist. Doch einmal, es war der 27. August 2000, da schrieb der inzwischen 37-jährige Brasilianer Ricardo Zonta in der 41. von 44 Runden des Klassikers von Spa-Francorchamps Rennsport-Geschichte - und das im Moment der Demütigung, der Überrundung.
Auf dem Weg durch die gefürchtete Senke von Eau Rouge sieht Zonta im Rückspiegel zwei Boliden an Format gewinnen. Oben am Hügel bei Raidillon blickt er hastig links und rechts, positioniert sich auf der Kemmel-Geraden leicht rechts der Mitte, geht vom Gas und sieht plötzlich auf jeder Seite einen Torpedo mit Tempo 300 km/h vorbeischießen, nur Zentimeter von seinem Auto entfernt - einer rot und einer silberfarben.
Historisches Ereignis
Nach dem Rennen sollte McLaren-Teamchef Ron Dennis, normalerweise kein Mann der großen Emotionen, unter Freudentränen sagen: "Was Mika da gemacht hat, wird als eines der größten Überholmanöver aller Zeiten in die Geschichte eingehen." Er sollte recht behalten. Noch heute erinnert sich jeder Formel-1-Fan, der damals vor dem TV-Gerät saß, an den Tag, als Mika Häkkinen Zonta in seine Aktion mit einbezog, um Michael Schumacher niederzuringen und den Sieg in Spa einzufahren.
"Jacques ist fast ausgeflippt", schildert Ex-Pilot Marc Surer, der das Rennen gemeinsam Jacques Schulz für Premiere kommentierte, die Szenen in der Reporterkabine. Und Häkkinens Landsmann Valtteri Bottas, der einen Tag vor seinem elften Geburtstag bereits Kartrennen fuhr, erzählt 'Motorsport-Total.com' mit leuchtenden Augen: "Ich saß an jenem Tag zuhause in Finnland vor dem Fernseher und erinnere mich sehr gut daran. Was für ein cooles Manöver!"
In zahlreichen Überholmanöver-Rankings war die abenteuerliche Aktion bisher die Nummer eins, ein Blick auf YouTube unterstreicht dies: Über eine Million Mal wurde das Video geklickt - so oft wie kein anderes Überholmanöver im Motorsport.
Häkkinen geht enormes Risiko ein
Doch was macht das Manöver so speziell? Rein fahrerisch war es kein einzigartiges Meisterstück - Häkkinen bremste weder besonders spät, noch fuhr er wie bei anderen Top-Aktionen auf der Außenbahn an einem Rivalen vorbei. "Ich finde es überbewertet", meint Häkkinens Ex-McLaren-Teamkollege Alex Wurz gegenüber 'Motorsport-Total.com' sogar. "Es war ein cooles, spektakuläres TV-Manöver, aber es hat sich so ergeben." Und sogar der Hauptdarsteller selbst wundert sich gegenüber der 'SportWoche': "Da habe ich Millionen von Überholmanövern gemacht, und dann reden immer alle von einem."
Außergewöhnlich war nicht das Spiel mit dem Gaspedal, oder gar ein Rad-an-Rad-Drift durch die Kurve, sondern Häkkinens überraschende Herangehensweise. "Es war einfach eine mutige Entscheidung, weil Michael schon links neben Zonta war", analysiert Surer. "Die normale Reaktion, wenn du überrundet wirst, wäre, dass du nach rechts ziehst. Das Risiko ist Mika eingegangen - und das war ein großes Risiko: dass Zonta nur Michael sieht und nach rechts fährt, um Platz zu machen, Mika aber abschießt."
Wie Zonta das Manöver erlebte
Tatsächlich wäre es beinahe so gekommen - das erzählt der Mann, der das Manöver erste Reihe fußfrei erlebte: Ricardo Zonta. Der Mann aus Curitiba hätte Häkkinen beinahe übersehen, als die beiden Rivalen links und rechts an ihm vorbeizogen: "Michael war links von mir, und ich habe Mika auf der rechten Seite gar nicht kommen sehen. Ich war damals zumindest etwas überrascht."
Er habe dann einfach versucht, den beiden "Platz zu lassen", und ist heute stolz auf sein außergewöhnliches Erlebnis: "Es war beeindruckend, und ich hatte eine tolle Aussicht." Doch war Häkkinen in den Sekunden-Bruchteilen, in denen er sich für die rechte Fahrspur entschied, überhaupt bewusst, auf welch riskantes Spiel er sich dabei einließ?
Häkkinens Plan
Der Finne verrät gegenüber 'auto motor und sport', dass die Aktion geplant war: "Ich wusste: Wenn Michael links an Zonta vorbeifährt, dann probiere ich es rechts. Sonst andersherum. Ich hoffte, dass sich Michael möglichst früh für eine Seite entscheiden würde, um die andere zu nehmen. Zonta hat zum Glück kapiert, dass da zwei Torpedos heranfliegen. Er blieb wo er war."
Das Manöver war auf Messers Schneide, aber Häkkinens Vorhaben ging auf: "Michael zog nach links, was ich irgendwie erwartet hatte, weil rechts die Spur noch feucht war. Hätte Michael nur eine halbe Sekunde länger gewartet, hätte ich lupfen müssen. Zwischen Zonta und dem Gras war genau Platz für ein Auto."
An die möglichen Konsequenzen seiner Aktion dachte Häkkinen aber nicht. "Wwenn ich das Video heute auf YouTube sehe, wird mir ganz anders", gibt er zu. "Wie konnte ich nur so viel Risiko nehmen? Der Tempo-Überschuss zu Zonta war enorm. Hätte er falsch reagiert, und wäre er entweder nach links oder rechts ausgewichen, wäre entweder ich oder Schumacher gigantisch abgeflogen."
Aktion hätte böse enden können
Häkkinen untermauert seine These und verweist auf den spektakulären Überschlag von Mark Webber 2010 in Valencia, als dieser beim Überrunden auf den deutlich langsameren Caterham-Boliden von Heikki Kovalainen aufprallte. "Und bedenke dann, um wie viel schneller wir an dieser Stelle in Spa waren", zeigt er sich viele Jahre später nachdenklich.
Erinnerungen an den Todessturz von Ferrari-Legende Gilles Villeneuve werden wach, dessen Fahrzeug im Qualifying von Zolder 1982 als Folge eines Missverständnisses über den Boliden von Jochen Mass nach oben katapultiert wurde - der Kanadier flog durch die Luft und starb durch den Aufprall an einem Fangzaun-Pfeiler.
Häkkinen sauer auf Schumacher
Obwohl bei Häkkinens Vorhaben glücklicherweise alle mitspielten, gab es nach dem Rennen dicke Luft zwischen dem zweifachen Weltmeister und seinem Rivalen Michael Schumacher. Surer erinnert sich: "Wir alle dachten, dass Mika zum Shakehands zu Michael hingeht, weil sie einen super Fight hatten, dabei war er stocksauer und beschwerte sich. Wir haben lange gerätselt worüber. "
Auslöser war die Vorgeschichte des legendären Duells. Der McLaren-Pilot hatte nach einem Fahrfehler in der Anfangsphase bei wechselhaften Bedingungen die Führung an das Ferrari-Ass verloren und machte dann auf der abtrocknenden Piste Jagd auf ihn. Schumacher - mit einer Regen-Abstimmung gestartet - fehlte es an Höchstgeschwindigkeit, Häkkinen sah also seine Chance auf der Kemmel-Geraden nach Eau Rouge.
Eine Runde vor dem legendären Manöver nutzte er den Geschwindigkeits-Überschuss und setzte sich auf der Geraden rechts neben den Deutschen. "Er endete im Gras, weil ihm Michael keinen Platz ließ und ihn einfach abgedrängt hat", beschreibt Surer die Szene. "Heute würde so etwas bestraft werden." Der Beweis für Schumachers rüde Aktion befindet sich bis heute im Büro von McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh in Woking: die linke Frontflügel-Endplatte von Häkkinens Auto mit den Markierung von Schumachers rechtem Hinterreifen - ein Erinnerungsstück an das historische Wochenende.
Häkkinen vermeidet öffentliches Scharmützel
Doch - typisch Häkkinen - ließ der gefeierte Sieger nach Schumachers Aktion nicht über die Medien Dampf ab, sondern besprach die Angelegenheit mit ihm unter vier Augen. Erst Jahre später offenbarte er, was er Schumacher nach dem Rennen mit seinen Gesten und den eindringlichen Worten klarmachen wollte: "Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht möchte, dass er das jemals wieder mit mir macht. Und ich glaube, er hat es verstanden."
Warum er in der Öffentlichkeit so lange darüber schwieg? "Ich habe nie meinen Mund aufgemacht, wie das andere Fahrer getan haben, die sich beschwerten, was für ein übler Pilot Michael doch ist", sagte Häkkinen zehn Jahre nach dem legendären Rennen gegenüber dem neuseeländischen 'Herald'. "Ich sah darin keinen Sinn, denn das hätte überhaupt nichts verändert."
Schumacher, dessen Verhältnis zu den Medien stets zwiespältig war, dankte es Häkkinen beim folgenden Rennwochenende in Monza mit schmeichelhaften Kommentaren und bezeichnete ihn als "Vollprofi und als großartigen Sportler". Über eines sprach Schumacher, der in diesem Jahr seinen ersten Ferrari-Titel einfahren sollte, allerdings nie mehr mit seinem großen Rivalen: das Überholmanöver in Spa. Häkkinen bestätigt dies: "Ich sehe Michael ja noch oft - aber er hat diesen Tag nie mehr erwähnt."