Surer im Interview: "Mercedes war 2017 das bessere Auto"

, 28.12.2017

Formel-1-Experte Marc Surer analysiert die Saison 2017: Warum Lewis Hamilton trotz WM-Titel kein makelloses Jahr hatte und wie er die Ferrari-Defekte erklärt

Formel-1-Experte Marc Surer ist seit vielen Jahren aus dem Fahrerlager nicht wegzudenken. Der ehemalige Rennfahrer analysiert für 'Motorsport-Total.com' die vom Duell zwischen Weltmeister Lewis Hamilton und Herausforderer Sebastian Vettel geprägte Saison 2017. Im Interview stellt der Schweizer klar, warum der Weltmeister seiner Meinung nach das bessere Material hatte, was ihn am Ferrari-Aufschwung besonders beeindruckt hat und warum 2018 noch spannender werden sollte. Und er offenbart seine Theorie, wieso die Scuderia in der zweiten Saisonhälfte solche Zuverlässigkeitsprobleme bekam.

Frage: "Herr Surer, die wichtigste Frage gleich vorweg: Ist Lewis Hamilton ein verdienter Weltmeister?"

Marc Surer: "Absolut. Er hat zwar schwach angefangen, aber als er gemerkt hat, dass es dieses Jahr nicht so einfach wird, hat er sich gesteigert und ist erstklassig gefahren. Das gilt auch für die Arbeitsweise, wie er das Auto weitergebracht hat. Der Fahrer hat ja immer einen großen Einfluss, wenn es um das Verstehen der Reifen geht. Das ist immer ein Zusammenspiel zwischen Ingenieur und Fahrer. Das haben die richtig gut in den Griff bekommen."

"In der zweiten Hälfte des Jahres war er dann wieder so, wie wir ihn kennen: Er hatte alles unter Kontrolle, war cool und eben auch unter Druck fehlerfrei. Sehr stark!"

Frage: "Sie sagen, er hat in der ersten Saisonhälfte Schwächen gezeigt. Was hat er da vermissen lassen?"

Surer: "Dass ihn Valtteri Bottas schlägt, hat mich schon überrascht. Das zeigte schon, dass er nicht auf dem gewohnten Niveau fuhr. Ich vermutete, er hat sich das zu einfach vorgestellt und sich gedacht: Nico ist weg, Bottas hab ich schon im Griff, und auch Ferrari wird nicht so eine Gefahr werden über das gesamte Jahr. Als er dann gemerkt hat, dass es doch eng wird, hat er sich wieder auf sein eigentliches Können besonnen."

Frage: "Die Wende kam aber dann nicht durch Hamilton und Mercedes, sondern in erster Linie durch Ferrari. Würden Sie zustimmen, dass sich Ferrari selbst um den Titel gebracht hat?"

Surer: "Nein, ich glaube, dass der Mercedes definitiv das bessere Auto war, auch wenn es ein paar Schwächen hatte. Und man hatte auch immer das Gefühl, dass sie bei Bedarf ein bisschen Leistung in der Hinterhand hatten."

Frage: "Bei Ferrari ging zu Beginn der Asien-Tour mit technischen Defekten und Fahrfehlern alles schief. Haben Sie das Gefühl, dass sie da ein bisschen die Nerven verloren haben, vielleicht auch, weil sie jahrelang nicht um den Titel gekämpft haben?"

Surer: "Man muss aufpassen, dass man nicht alles in einen Topf wirft. Da ist beim Ansaugtrakt des Motors offensichtlich schon im Werk ein Teil kaputtgegangen, der ja unter Druck steht vom Turbo. Da sind Risse entstanden. Das ist zwei Mal passiert. Und dann sind im Rennen Dinge schiefgegangen. Ich würde das aber nicht mischen."

"Vielleicht hat die hohe Frequenz bei den Verbesserungen dazu beigetragen, dass sie so viele Teile produziert haben und die Qualitätskontrolle ein bisschen vernachlässigt haben. Es kann einmal passieren, aber es hätte eben nicht zweimal passieren dürfen. Da sind sicher unter dem Druck der Entwicklung Fehler passiert."

Surer von Ferrari-Aufschwung komplett überrascht

Frage: "Ist Mercedes diesbezüglich abgezockter, weil sie es gewohnt sind, um den Titel zu fahren?

Surer: "Wenn du eine gute Basis hast, ist es einfacher, im Detail zu entwickeln. Wenn du aber wie Ferrari große Schritte machst, kann man schon mal übers Ziel hinausschießen oder durch die Häufigkeit die Qualitätskontrolle ein bisschen vernachlässigen."

Frage: "Stichwort großer Schritt. Der war ja bei Ferrari tatsächlich über den Winter sehr groß. Hätten Sie es Ferrari zugetraut, mindestens auf Augenhöhe mit Mercedes zu sein?

Surer: "Nein. Ich war überrascht und glaubte selbst nach den Barcelona-Tests noch nicht wirklich dran, weil sie auch in anderen Wintern schnell waren. Die Konstanz ist aber schon aufgefallen: Sie waren mit vollem und mit leerem Tank schnell. Außerdem war erkennbar, dass sie an einem Strang zogen. Das ist bei Ferrari davor nicht immer der Fall gewesen."

"Es ist das Werk von Mattia Binotto (Technikchef; Anm. d. Red.), die Leute dazu zu bringen, gemeinsam zu arbeiten und nicht gegeneinander. Ein schnelles Auto entsteht ja dadurch, dass alles zusammenspielt. Und Mercedes hatte da - weil sie so viel Zeit genutzt haben, als das neue Reglement kam - von Anfang an die richtige Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren, was den Motor, die Elektronik und das Chassis angeht. Bei Ferrari hat das nicht 100-prozentig harmoniert. Jetzt scheinen sie das aber im Griff zu haben."

"Das konnte man auch erkennen, als sie zusätzliche Kühlung angebracht haben. Das war offensichtlich die Schwachstelle, dass sie Anfang des Jahres diese Turboschäden hatten. Es scheint schon zu funktionieren. Mehr als die Arbeit im Winter hat es mich beeindruckt, dass sie Schritt für Schritt mit Mercedes mithalten konnten. Ich habe mir gedacht: Sie haben zwar ein gutes Auto gebaut, aber das war es dann, denn in der Vergangenheit haben sie oft neue Teile gebracht, die langsamer waren als die alten. Dieses Jahr war hingegen fast alles, was sie ans Auto geschraubt haben, wirklich besser."

Surer: Arrivabene-Aus hätte keine schlimmen Folgen

Frage: "Wenn man Vettel nach der Saison fragt, sagt er immer, man müsse die Kirche trotz des verlorenen Titels im Dorf lassen und Ferrari habe große Fortschritte gemacht. Sind die jetzt in Maranello wirklich so positiv eingestellt oder verkauft man sich nur so?

Surer: "Es sind nur Details, an denen es gescheitert hat. Sie haben nicht in die falsche Richtung gearbeitet. Mexiko war ein Vettel-Fehler. Da in eine Kollision verwickelt zu werden, war unnötig."

"Singapur war Pech, das kann passieren, aber man kann sagen: Wenn Vettel um die WM fährt, muss er vorsichtiger agieren. Man kann im Detail Dinge besser machen. Aber selbst, nachdem ihnen die Felle davongeschwommen sind, habe ich im Gegensatz zur Vergangenheit keine Panik gespürt."

Frage: "Wobei ja dann die Gerüchte umgingen, dass es mit Teamchef Maurizio Arrivabene bald vorbei sein könnte. Das scheint sich aber wieder beruhigt zu haben."

Surer: "Wie viel Einfluss hat denn dieser Arrivabene überhaupt? Binotto macht das Auto und ist der Mann, der für die Entwicklung zuständig ist. Und das funktioniert. Der andere ist das Aushängeschild der Firma, aber den Laden schmeißt er nicht."

Frage: "Als Aushängeschild ist Arrivabene aber auch der erste, der in der Kritik steht ..."

Surer: "Klar, aber ob er jetzt da ist oder nicht, macht glaube ich keinen großen Unterschied."

Frage: "Stichtwort Kritik. Hat der Rammstoß von Baku ihrer Meinung nach noch irgendeine Bedeutung für Vettel und Hamilton, oder haben die beiden das komplett abgehakt?

Surer: "Es war ein klares Foul von Vettel. Ich bin eigentlich erstaunt, wie souverän Lewis Hamilton das weggesteckt und sich auch verhalten hat. Das war weltmeisterlich. Vettels Reaktion verstehe ich natürlich auch. Wenn du das Gefühl hast, dass sein Bremsmanöver eine Schikane war, dann packt dich vielleicht die Wut. Das würde ich jetzt eher einem jungen Fahrer wie Verstappen zutrauen."

"Ein Vettel sollte mit dieser Erfahrung drüberstehen, aber so ist er halt, wie man am Funk auch manchmal hört. Er explodiert manchmal ein bisschen."

Frage: "Das spielt aber beim nächsten Rennen keine Rolle mehr?"

Surer: "Das wäre etwas anderes gewesen, wenn er etwas Bösartiges gemacht hätte und ihm bei Tempo 300 an die Räder gefahren wäre. Dann kann man schon ein komisches Gefühl bekommen, aber so etwas kann man mit einem Ellbogen beim Fußball vergleichen."

Surer rechnet mit aufregender Saison 2018: Es wird noch enger

Frage: "Nico Rosberg hat gesagt, dass die Chancen von Ferrari 2018 nicht unbedingt größer werden. Würden Sie dem zustimmen, dass Mercedes jetzt wieder wegziehen kann?"

Surer: Nein, ich glaube nicht. Ich glaube schon, dass sich alles zusammenschiebt. Das Schlimme für Ferrari: Nächstes Jahr sind andere auch da. Wenn man jetzt Red Bull anschaut - und wir wissen nicht, wie gut dann auch McLaren sein wird -, dann hat Ferrari mit Sicherheit eine große Chance verpasst, das gute Auto so richtig zu nutzen."

"Nächstes Jahr spielen mehrere mit, dafür spielt dann auch die Konstanz eine große Rolle. Da hat Ferrari nach wie vor Chancen. Es wäre dieses Jahr aber leichter gewesen als es vermutlich im nächsten Jahr sein wird. Andererseits: Wer weiß? Wenn uns die Truppe im Winter wieder überrascht ... Wir müssen abwarten und schauen, ob sie in der Lage sind, noch eins draufzusetzen."

Frage: "Es wurde vor allem bei Mercedes nie so offen kommuniziert, aber: Sind Valtteri Bottas und Kimi Räikkönen klar als Nummer 2 abgestempelt?"

Surer: "Das ist keine Frage: Die sind Nummer-2-Piloten. Sie haben sich selber in diese Lage gebracht. Der Kimi scheint es nicht zu schaffen, einmal ein Rennen zu gewinnen oder eine Pole-Position zu fahren."

Frage: "In Monaco stand er auf Pole ..."

Surer: "Das stimmt, aber es sah schon öfter gut aus und scheiterte beim letzten Versuch. Und wenn er dann einmal auf der Pole steht, dann schafft er es nicht, das Rennen zu gewinnen. Man kann jetzt über Monaco diskutieren, was da passiert ist, aber wenn er schnell genug gewesen wäre, hätte er trotzdem gewonnen, obwohl Vettel länger draußen blieb. Das kann man nachrechnen. Man sieht also, dass Vettel der schnellere der beiden ist, wenn es drauf ankommt. Und natürlich auch der, der es dann umsetzt."

Frage: "Und Bottas?"

Surer: "Der hat sicher positiv überrascht, aber als Lewis wieder in seiner alten Form fuhr, hat man schon gesehen, wer der bessere ist. Da gibt es keinen Zweifel. Ich würde daher sogar einen Schritt weitergehen: Im nächsten Jahr dürfen die Piloten gar nicht gleichgestellt sein, denn sonst nehmen sie einander Punkte weg. Das wird nächstes Jahr wichtig sein, wenn so viele Autos vorne mitmischen, muss man immer den richtigen Fahrer vorne haben."

Großes Lob für neues Reglement

Frage: "Hängt es bei Red Bull kommende Saison nur davon ab, wie der Renault-Motor funktioniert?"

Surer: "Ich glaube schon. Die haben jetzt mit dem Chassis einen Stand erreicht, bei dem man klar sagen kann, dass sie das beste Chassis im Feld haben, aber der Motor ist der Schwachpunkt. Wenn man gewinnen kann, wenn es wenig Luftwiderstand gibt, dann ist das schon ein Zeichen, dass beim Motor noch was kommen muss."

"Weil man sieht auch bei Ferrari: Wenn man gegen Mercedes antritt und die im Qualifying noch einmal was drauflegen, dann haben sie einen Vorteil von ein, zwei Zehntel, ohne dass der Fahrer sich mehr anstrengen muss."

Frage: "Und gerade wenn das Überholen so schwierig ist, dann ist das bereits die halbe Miete."

Surer: "Genau."

Frage: "Gibt es noch etwas, das sie gerne zur Saison 2017 sagen möchten?"

Surer: "Ja. Dass wir mit den breiten Autos ein Super-Reglement haben. Das hat man nämlich schon vergessen. Bei den Testfahrten in Barcelona gab es noch viele Bedenken. Da hieß es schon, man könne dem anderen Auto nicht mehr folgen und es gäbe viel zu viele Turbulenzen. Dabei wurde nie so viel in Kurven überholt wie dieses Jahr."

"Wir haben so tolle Manöver gesehen, bei denen die Piloten Rad an Rad durch die Kurven fahren. Der Fahrer kann jetzt mehr attackieren, weil einfach mehr Grip da ist. Das war früher nicht der Fall. Da wurde zwar mehr überholt, aber auf der Geraden wurde einfach vorbeigefahren. Jetzt geht es weiter, und sie fahren drei, vier Kurven nebeneinander. Das habe ich ewig nicht mehr gesehen. Und das mit breiteren Autos. Das hat mich überrascht, und ich glaube, auch das Publikum hat das begriffen."

"Wir haben in Brasilien mehr Zuschauer gehabt als im Vorjahr, dabei war es damals offiziell Massas letztes Rennen, und auch die WM war noch nicht entschieden. Jetzt ist sie entschieden, und trotzdem fuhr man vor vollem Haus. Ich glaube, dass die Zuschauer die schnelleren Autos und die Rad-an-Rad-Duelle honorieren. Ich finde, das muss man wirklich hervorheben, weil es echt toll ist."

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