Wie der Weltmeister immer noch von A nach B hetzt, was ihn von Tennis-Legende Thomas Muster unterscheidet und wie die Aussöhnung mit Lewis Hamilton läuft
© Foto: Georg Nolte (Twitter)
Eigentlich sollte man meinen, Nico Rosberg müsste jetzt ein entspanntes Leben führen. Der ärgste Termin-Wahnsinn nach seiner ebenso dramatischen wie kräftezehrenden WM-Sternstunde in Abu Dhabi ist überstanden, und wenn er einen Raum betritt, stehen nicht mehr alle spontan auf und klatschen minutenlang Beifall. Irgendwann muss es nicht mehr der Smoking sein für die abendliche Gala, sondern die Jogginghose fürs Füttern und Baden der Kleinen. Auch im Leben eines Formel-1-Champions kehrt irgendwann der Alltag ein.
Aber aus dem Plan, erst mal mit Töchterchen Alaia und Ehefrau Vivian ganz besinnlich Weihnachten zu feiern und anschließend eine Weltreise zu machen, wurde nichts. Dabei waren die Tickets schon gebucht. Ohne Rückflug. "Das haben wir dann nicht gemacht, aus verschiedenen Gründen", sagt Rosberg im Interview mit 'Motorsport-Total.com'. "Hauptsächlich weil es organisationstechnisch nicht gepasst hat. Und es ist zu Hause auch sehr schön."
Unser Interview findet statt am Rande des von _wige präsentierten Sportbusiness-Kongresses SPOBIS in Düsseldorf. Der 31-Jährige soll dort Michael Schumachers ersten Keep-Fighting-Award an die Behindertensportlerin Vanessa Low übergeben, und als wir ihn am frühen Abend treffen, studiert er gerade seine Laudatio. Rosberg wirkt wie ein Schuljunge, der gleich ein Gedicht aufsagen muss, wie er da so steht in seinem schwarzen Anzug und mit einem A4-Zettel in der Hand.
Rank und schlank wie eh und je
Der Anzug ist Größe "Skispringer", denn Rosberg hält sich weiterhin penibel an seinen Ernährungs- und Trainingsplan. Wie einst Tennisprofi Thomas Muster in den ersten Monaten nach dem Ende der Karriere in die Breite zu gehen, wäre ihm ein Graus. Und er wirkt rastlos. Eigentlich sollte man meinen, er könnte jetzt die Muße haben, mal in Ruhe ein Gläschen Wein zu schnappen und zumindest im informellen Rahmen all jene alten Geschichten auszupacken, die er noch nie erzählt hat. Aber dafür ist ein Sportbusiness-Kongress wohl nicht der richtige Rahmen.
Sein Medienberater Georg Nolte (immer noch wie ein Schatten ständig an seiner Seite) arrangiert, dass nach der Verleihung des Awards spontan ein Interview stattfinden kann. Freilich nicht ganz entspannt in einer Lounge, sondern im Gehen von A nach B. Zwischen zwei Terminen. So ruhig scheint es im Leben des Herrn Weltmeisters also noch nicht zuzugehen.
Den Award verleiht Rosberg routiniert und sympathisch; das Lernen des Texts war letztendlich eine überflüssige Übung, denn seine Laudatio wirkt spontan und authentisch und keineswegs auswendig gelernt. Noch ein paar Fotos auf der Bühne, und dann soll das Interview stattfinden. Aber da schleicht sich eine aus dem Formel-1-Paddock bekannte Tätigkeit an: erst mal Selfies machen - nur dass die Fans in Düsseldorf Sport- und Branchenmanager in Schlips und Kragen sind.
Die Preisfrage: Bereut er den Rücktritt schon?
Dann endlich Zeit für das Interview. Wir haben uns zum letzten Mal getroffen in Wien, am Tag seiner völlig überraschenden Rücktrittsbekanntgabe. Da eilte er noch von Termin zu Termin, und eine meiner Fragen in der Pressekonferenz war, ob es nicht klug gewesen wäre, erst mal zur Ruhe zu kommen, bevor er so eine einschneidende Entscheidung bekannt gibt. In Stresssituationen geborene Entscheidungen, heißt es, sind oft nicht von langer Dauer.
"Es war natürlich nicht einfach, eh klar, aber für mich hat es sich in dem Moment richtig angefühlt", sagt er. In dem Moment? Klingt ein bisschen so, als sei der erste Anflug von Zweifel schon entstanden. Aber Rosberg legt blitzschnell nach: "Und heute definitiv auch noch! Ich fühle mich sehr, sehr wohl. Ich kann jetzt zurückblicken und sagen: 'Ich habe das Kapitel auf dem absoluten Höhepunkt zugemacht.' Diese Erinnerung werde ich für immer bei mir behalten."
Im Vorbeigehen nimmt Rosberg noch einen kurzen Plausch mit einem möglichen Geschäftspartner mit, verspricht, sich bei dessen Kollegen zu melden. Man gewinnt den Eindruck: Dieser Mann hat keine Lust, die Hände in den Schoß zu legen, sich am Erreichten zu erfreuen und zu Hause der Familie auf die Nerven zu gehen. Dieser Mann ist getrieben von der Idee, das nächste Kapitel aufzuschlagen. Und zwar lieber früher als später.
Keine Lust auf Däumchen drehen
"Ich freue mich auf ein genauso spannendes und tolles weiteres Kapitel in meinem Leben, in dem ich neue Herausforderungen angehen und neue Wege beschreiten werde. Da bin ich jetzt auch schon wieder voller Energie dabei", räumt er ein und ergänzt: "Es ist eine tolle Zeit. Ich hatte sehr schnell das Gefühl, dass ich jetzt schon wieder in einen neuen Weg reingucken und nicht nur am Strand sitzen möchte. Da bin ich mit großer Freude dabei. Ich bin schon wieder recht aktiv."
Heißt konkret? Immobilien, Start-ups, mit dem verdienten Geld etwas Sinnvolles anstellen? "Das mach' ich sowieso die ganze Zeit", grinst er. "Mich interessieren so viele Sachen." Genauer wird's erst mal nicht: "Vielleicht kann ich dazu irgendwann was sagen. Heute noch nicht", winkt er ab. Fest steht erst mal nur, dass er als Mercedes-Botschafter für den Daimler-Konzern und dessen Partner repräsentative Aufgaben wahrnehmen wird.
Alles andere kommt dann ganz von selbst. Rosberg lebt ein privilegiertes Leben; über Geld muss er sich - so er sich gut beraten lässt - nie wieder Sorgen machen. Insofern verspürt er bei seinen Zukunftsplänen keinen Zeitdruck: "Mein Gefühl Stand heute ist, dass ich etwas zurückgeben möchte. Mir wurde so viel gegeben in meinem Leben, mit meinem Sport und mit meiner Familie, und da versuche ich einen Weg für diverse Herzensangelegenheiten zu finden. Übrigens ein Grund, warum ich heute hier bin."
WM-Pokal steht im Büro in Monaco
Zumindest über Weihnachten hatte Rosberg einmal Zeit, in sich zu gehen und seinen wahr gewordenen Kindheitstraum wirken zu lassen. Heiligabend im Kreis der Familie war der erste Moment, in dem ihm so richtig bewusst geworden ist, was er in Abu Dhabi (und den 20 Rennen davor) eigentlich erreicht hat. Der WM-Pokal steht zwar nicht wie im Hause Vettel auf dem Küchentisch, aber "der hat einen Ehrenplatz, bei meinem Schreibtisch in Monaco".
Zwischen Ehrungen, Terminen, Sportkongressen und Zukunftsplänen bleibt jetzt zumindest dann und wann mal Zeit für Dinge, die 2016 auf der Strecke geblieben sind. Zum Beispiel das Kitten der Beziehung mit Intimfeind-Ex-Teamkollege Lewis Hamilton, der früher einmal sein bester Freund war. Die beiden haben sich auch nach der FIA-Gala in Wien schon getroffen, bestätigt Rosberg: "Wir hatten wieder ein paar gute Momente."
Von früheren Zeiten, als Hamilton in Monaco unangemeldet an der Nachbartür klopfte und sich spontan aus dem Kühlschrank bediente, ist das Verhältnis der beiden aber noch weit entfernt. Überliefert ist ein Treffen am Swimmingpool im Sommer 2016, während der heißen Phase des Titelduells; das Treffen nach Wien hat "nicht zu Hause" stattgefunden, verrät Rosberg, denn: "Wir sind keine besten Freunde."
Keine Lust auf Hamiltons Sticheleien
Das wurde schon bei der FIA-Gala in Wien klar, wo Hamilton Rosberg sinngemäß vorwarf, dass es feige sei, als Weltmeister abzutreten. Die Geschlagenen hätten so nämlich keine Chance, der Welt zu beweisen, dass sie durchaus imstande sind, den Spieß im Jahr darauf umzudrehen. Hamilton tut Rosbergs WM-Titel augenscheinlich weh. Noch mehr weh tut ihm aber, dass dieser durch Rosbergs Rücktritt unwidersprochen so im Raum stehen bleibt.
Rosberg empfindet diese Aussagen Hamiltons "nicht als Spitze. Wir sind auf einem guten Weg zusammen", relativiert er, offenbar müde, sich auf das ewige Stichelei-Thema jetzt weiterhin einzulassen. "Natürlich haben mir das auch ein paar Fans gesagt. Aber es kann ja nicht mein Hauptaugenmerk sein, ob ich meinen Gegnern nochmal eine Chance gebe oder nicht. Ich bin die ganzen Jahre gegen die gefahren und habe gekämpft. Da brauche ich jetzt nicht deswegen weiterzufahren."
Obwohl ihm das Rennfahren an sich wahrscheinlich von allen Tätigkeiten im Formel-1-Paddock am meisten fehlen wird: "Natürlich werde ich das vermissen, eh klar. Aber dann geh' ich halt Kartfahren mit meinen Freunden, dann hab' ich den Spaß", sagt er. Bis jetzt hatte er dafür noch keine Zeit. Pläne dafür gibt's sehr wohl: "Ich möchte mal all meine alten Kollegen zusammenholen und einen Tag auf der Kartbahn verbringen. Zum Beispiel meine Teamkollegen von früher, als ich noch ganz klein war."
Endlich wieder Zeit für das Lesen der Fachpresse
Zeit bleibt auch wieder für die tägliche Lektüre von 'Motorsport-Total.com', die Rosberg 2016 komplett abgestellt hatte - um nicht von irgendwelchen Medienstorys vom Fokus auf das große Ziel abgelenkt zu werden. Worüber er am meisten schmunzeln musste? "Über Niki zum Beispiel. Zu mir sagt er am Telefon: 'Hut ab vor deiner Entscheidung!' Und in der Presse übt er Kritik." Reden tun die beiden trotzdem noch: "Jaja. Ist halt Niki. Aus dem Schock heraus hat er ein paar Sachen gesagt."
Ist halt Niki. Ist halt Bernie? Der große Zampano der Formel 1 wurde von den neuen Eigentümern Liberty Media zu einer Art Ehrenpräsident ernannt, de facto also entmachtet. Rosberg ist einer der wenigen, die sich öffentlich dazu bekennen, dass das längst an der Zeit war. Eine nachvollziehbare Meinung - oder vielleicht auch ein bisschen eine Retourkutsche dafür, dass Ecclestone Hamilton immer für den besseren Weltmeister gehalten (und das auch öffentlich kundgetan) hat?
Rosberg schaut entgeistert, fast so, als käme eine andere Meinung als die seine gar nicht in Frage, wenn man auch nur halbwegs bei Sinnen ist. "Da sind wir uns doch alle einig, oder?", fragt er. "Weil der Sport einfach mal frische Luft und eine neue Struktur braucht. Die Struktur, die jetzt am Ende vorhanden war, mit Bernie und den Teams, da war es schwierig, den Sport im Vordergrund zu sehen. Jeder hat seine eigene Agenda verfolgt. Da muss man eine neue Struktur reinbekommen."
Großes Vertrauen in Liberty Media
"Ich glaube, eine neue Führungskraft mit neuen Ideen tut gut. Zu sehen, was die bei Liberty machen, wird cool. Ich bin überzeugt, dass die das gut machen werden", meint er - und will das Kundtun seiner Meinung nicht als Affront gegen Ecclestone verstanden wissen: "Wir sind alle total dankbar, weil was er aus unserem Sport gemacht hat, das ist der Wahnsinn und sehr einzigartig. Davon profitieren wir alle."
"Aber er ist sehr, sehr lange dabei gewesen, und die Welt entwickelt sich natürlich auch sehr schnell. Von meinem Empfinden her war der Zeitpunkt jetzt genau richtig." Besonders um die Jugend zu erreichen, müsse man sich etwas einfallen lassen: "Wir hatten zuletzt ein bisschen Schwierigkeiten damit. Da sind wir bei den Amerikanern jetzt genau richtig, finde ich. Das sind Showbusiness-Master - die wissen genau, was man da machen muss. Ich bin sehr optimistisch."
Im Gegensatz zu Ecclestone plant Rosberg, zum einen oder anderen Grand Prix zu kommen; den Saisonauftakt in Melbourne wird er aber wohl vom Wohnzimmer aus mitverfolgen. Wem er dann wohl die Daumen drückt? "Lewis", kommt die überraschende Antwort wie aus der Pistole geschossen. "Denn wenn er noch eine Weltmeisterschaft gewinnt, macht das meinen Titel im Nachhinein noch wertvoller."