Die Reifendebatte geht weiter: Spannung und Action sind da, aber Dauertaktieren, Zielzeiten-Fahren und wehrlose Interims-Spitzenreiter sind ein Dorn im Auge
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Einmal Zankapfel, immer Zankapfel: Seitdem Pirelli in die Formel 1 eingestiegen ist, scheiden sich am Material der Italiener die Geister. Schon 2012 waren die Positionen zu den Reifen kontrovers, 2013 wählten die Verantwortlichen um Sportchef Paul Hembery einen noch aggressiveren Ansatz - und bekommen wieder einen Satz heiße Ohren verpasst, aber eben auch einige Schulterklopfer. Für Pirelli ergibt sich daraus eine schwierige Situation. Es scheint unmöglich, es Fahrern, Fans und Bernie Ecclestone recht zu machen.
Besonders der erstmals in der laufenden Saison angelieferte weiche Reifen mit gelber Markierung hatte wegen seiner geringen Haltbarkeit massive Kritik hervorgerufen. Mark Webber wähnte sich schon beim World Wildlife Found (WWF), Lewis Hamilton fand den Pneu einfach "Hardocore". Die Folge am Sonntag: Die Teams streiften die Mischung so schnell wie möglich ab, mit der mittelharten wurde es ein Fahren auf Zielzeiten - so groß war die Angst vor Abbau und Verschleiß, die schnell Sekunden kosten.
Christian Horner erkennt eine neue Philosophie in der Königsklasse: "Es ist nicht beinhartes Rad-an-Rad-Racing. Wir haben ein strategisches Spiel gespielt", so der Red-Bull-Teamchef über das neue Gummischach. Unterstützung erhält er von seinem McLaren-Teamkollegen Martin Whitmarsh: "Ich persönlich hasse es, wenn meine Fahrer nur mit 90 Prozent rumkurven. So sollte die Formel 1 nicht sein." So unglücklich wie ihre Bosse scheinen auch einige Piloten selbst zu sein, was die Situation in den Grands Prix betrifft.
Anspruchsvoll, aber nur begrenzt spaßig
Sebastian Vettel scheint nicht mehr zu erkennen, ob sich auf der Strecke tatsächlich die beste Kombination aus Fahrer und Auto durchsetzt: "Das Kräfteverhältnis ist im Moment ein Scherz. Das hat nicht viel mit Rennfahren zu tun, wenn man das ganze Rennen praktisch nur auf die Reifen auslegt", schüttelt der amtierende Weltmeister den Kopf. Fernando Alonso scheint auch nicht beglückt: "Die Rennen sind heutzutage keine Vollgas-Veranstaltung mehr. Zu 80 Prozent gibst du Vollgas, mit den restlichen 20 Prozent kontrollierst du das Tempo."
Gibt es also am Lenkrad bald einen Knopf für den Tempomaten? Die beiden Superstars erkennen trotz ihrer Kritik positive Elemente, die der neue Reifenkrieg mit sich bringt: "Für uns ist das ungeheuer anspruchsvoll", findet der Ferrari-Star, während Vettel relativiert: "Es macht schon Spaß, aber es ist halt anders. Jetzt fährt man ein wenig im Dunkeln, was die Zweikämpfe angeht. Dann versucht man gar nicht erst, sich groß mit den Leuten zu duellieren." Genau treibt Jenson Button in einen Zweispalt.
Im unterlegenen McLaren nur darauf aus, einen Stopp weniger zu machen als die Konkurrenz und dafür die Gummis zu schonen, musste sich der strategiebedingt zeitweise in die Spitzengruppe gespülte Brite zusammenreißen. Über das Verteidigen seiner Position sagt er: "Der Instinkt als Rennfahrer sagt dir 'Ja', aber wenn du darüber nachdenkst, sagst du 'Nein', weil du das Ziel erreichen musst. Dann muss man ihn vorbeilassen." Eine bittere Pille für einen Vollblutracer wie Button, der wenigstens einmal im Funk die Anweisung bekam: "Fight!".
"Gut für den Sport" oder einfach "wahnsinnig kompliziert"?
Der Ex-Weltmeister, dem sein Ruf als "Reifenflüsterer" nacheilt, sagt: "Das war ein wenig wie in Le Mans, wenn du in einem LMP2-Auto fährst und von hinten die LMP1 kommen. Dadurch wurde das Rennen etwas langweilig." Wirklich? Auch in diesem Punkt gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie Bernie Ecclestone im Gespräch mit 'Sky Sports Italia' unterstreicht: "Wenn ich die Rennen der vergangenen drei Jahre sehen, war es positiv. Das gilt auch für den Beginn dieser Saison", erklärt der Zampano.
Martin Whitmarsh ist der neuen Art von Spannung ebenfalls nicht abgeneigt, auch wenn er die Reifen für "etwas zu zerbrechlich" hält: "Im Rennen haben wir viele verschiedene Führende gesehen, und der Ausgang war lange ungewiss. Die besten Rennen sind die, bei denen man am Sonntagmorgen weiß, dass sechs oder sieben verschiedene Fahrer gewinnen können", überlegt der McLaren-Teamchef. "Hätte man am Sonntagmorgen hier eine Umfrage gemacht, wären so viele verschiedene Namen genannt worden. Das ist gut für den Sport."
Niki Lauda hingegen ordnet sich in die Phalanx der Pirelli-Kritiker ein. "Es ist wahnsinnig kompliziert geworden", ärgert sich der Mercedes-Verantwortliche bei 'RTL', will bereits von neuen, härteren Mischungen ab dem Spanien-Grand-Prix erfahren haben und hadert mit den vielen Boxenstopps: "Da kann man den Mechanikern nur gratulieren." Vettel vermisst die echten Zweikämpfe mit Gegnern auf der gleichen Strategie: "Du fährst letztlich nur gegen dich selbst und versuchst, so schnell wie möglich ins Ziel zu kommen."
Keine Lösung in Sicht
Allerdings: Diese Zweikämpfe gab es in China durchaus: In der Spitzengruppe direkt nach dem Start, Kimi Räikkönen gegen Hamilton, Vettel selbst gegen Nico Hülkenberg und viele weitere. Als es an die Überholmanöver gegen langsamere Piloten, die ohne Boxenstopp nach vorne gespült worden waren, ging, wurden den Piloten taktisches Geschick und kluges Zweikampfverhalten abverlangt. Webber und Räikkönen machten Fehler. Trotzdem wirkte das Rennen am Ende des Tages doch monoton.
Also zurück zum Dauersprint der frühen 2000er Jahre? Eigentlich kann das keine Lösung sein. Auch nicht für Vollgasfan Whitmarsh: "Lasst uns nicht dauernd sagen, wie schrecklich die Formel 1 ist. Wir machen das für uns selbst und klagen das ist schrecklich und das ist schrecklich", wehrt er sich gegen das Wehklagen in Endlosschleife, das seit geraumer Zeit durch das Fahrerlager schallt. "Die Show ist nicht schlecht. Die Show, die die Formel 1 in den vergangenen zwei oder drei Jahren geboten hat, war besser, als alles was ich in den letzten 25 Jahren im Sport gesehen habe."
Absolution für Pirelli? Fehlanzeige. "Wir sollten uns nicht über die Formel 1 beschweren, sondern höchstens über die Reifen", so Whitmarsh weiter. Am Ende mutet das Problem an wie die Quadratur des Kreises. Einerseits verhilft der Pneu den Grands Prix zu Unvorhersehbarkeit und Spannung, andererseits betont er eine andere Facette des Motorsport übermäßig stark, die insbesondere den Piloten nicht schmeckt. Fakt ist: Am Ende wird es immer jemanden geben, der mit der Situation unglücklich ist - und sich beschwert.