Wenn die Kieselsteine fliegen: Mein Tag als Streckenposten

, 25.05.2013

Schnuppertag bei den Streckenposten: Redakteur Stefan Ziegler hat am Salzburgring einen Blick hinter die Kulissen einer Rennveranstaltung geworfen

Und ganz plötzlich wird mir bewusst, wie gefährlich diese Nummer eigentlich ist. Für die Menschen, die abseits der Ideallinie alles dafür tun, dass Motorsport-Veranstaltungen sicher ablaufen. Dass die Beteiligten im schlimmsten Fall die nötige Hilfe bekommen. Dass der Rennbetrieb auf der Strecke so rasch wie möglich weitergehen kann. Obwohl man genau diese Menschen fast gar nicht wahrnimmt.

Es sind die Streckenposten, bei denen ich am Freitag des WTCC-Wochenendes in Österreich zu Gast sein darf. Für einen Schnuppertag hinter den Kulissen des Rennsports, um eine für mich ganz neue Perspektive kennenzulernen. Nämlich die der über 150 ehrenamtlichen Helfer vom Internationalen Streckensicherungs-Club (ISSC), die seit mittlerweile über 40 Jahren als Streckenposten aktiv sind.

2012 haben sie beim WTCC-Debüt des Salzburgrings erstmals auch die Tourenwagen-WM betreut. Und sie wurden vom Automobil-Weltverband (FIA) gleich als beste Streckenposten der WTCC-Saison geehrt. Ein Jahr danach bin ich selbst dabei, als es im "Nesselgraben" zu einer Neuauflage kommt. Ich habe die einmalige Gelegenheit, mir ein Bild davon zu machen, was es heißt, ein Streckenposten zu sein.

Alles begann im Sommer 1970

Der erste Aha-Moment lässt prompt nicht lange auf sich warten. Als ich am Donnerstagabend meine Ausrüstung für den Einsatz an der Rennstrecke erhalte, stutze ich für einen Augenblick. Feuerfester Anzug (Stückpreis: 600 Euro - nicht überall tragen die Helfer einen so hochwertigen Schutz), Handschuhe - ja, das passt. Aber ein Helm? Das Rennfahren überlasse ich doch Anderen! Noch ahne ich nicht, dass ich noch sehr froh über meinen Kopfschutz sein werde.

Zunächst aber tauche ich gemeinsam mit meinen Gastgebern in die Geschichte des ISSC und seiner Mitglieder ein. Streckenposten-Obmann Walter Scheiber jun. schildert mir in der "Zentrale" der Streckenposten, im alten Turm der Rennleitung, wie damals alles begonnen hat. 1970, als Manfred Kessler die Vereinigung der Salzburger Streckenposten gründete. Zusammen mit Jochen Rindt.

Der österreichische Rennfahrer steht kurz vor dem WM-Titelgewinn in der Formel 1, als er im August 1970 eine erste Übung mit den freiwilligen Helfern durchführt, deren Präsident er werden soll. Noch am gleichen Wochenende steigt Rindt selbst ins Auto, gewinnt am Salzburgring ein Formel-2-Rennen. Und eine Woche später ist er tot. Im Qualifying von Monza verunglückt er in der Parabolica-Kurve.

Als Streckenposten ist man Frühaufsteher

Es sind schwere Stunden für die junge Streckenposten-Mannschaft. Österreichs Kommentatoren-Legende Heinz Prüller macht sich aber für ihr Engagement stark und den Beteiligten Mut. Und sie gehen ihren Weg weiter, ab 1973 unter dem Vorsitz des späteren dreimaligen Formel-1-Champions Niki Lauda. Er ist es auch, der den Salzburgern im gleichen Jahr zu ihrem Formel-1-Debüt verhilft.

Auslöser dafür ist der tödliche Unfall von Roger Williamson beim Großen Preis der Niederlande in Zandvoort. Es ist eines von vielen traurigen Ereignissen, das die Geschichte des ISSC mitbestimmt, wie ich von Walter Scheiber jun. erfahre und später detailliert im Jubiläumsjournal des Klubs nachlese. Die Gefahr ist ein ständiger Begleiter der Streckenposten, beim Streben nach noch mehr Sicherheit.

Und es sind Frühaufsteher, die in Salzburg den Rennbetrieb überwachen. Am nächsten Morgen treffen wir uns schon um kurz vor sieben Uhr an der Strecke wieder. Einsatzbesprechung. Helmuth Geletiuk, der Leiter der Streckensicherung, schwört seine Mannschaft auf das bevorstehende Wochenende ein und geht mit seinen freiwilligen Helfern noch einmal den Tagesablauf durch. Ich lausche gespannt. Denn jetzt wird es ernst!

Mit dem Truck zum Einsatzort

An der Materialausgabe holen sich die Streckenposten ihre Ausrüstung ab, jeder bekommt noch eine Dose Red Bull mit auf den Weg, außerdem ein Funkgerät. Auf der Zielgeraden wartet schon der Truck, der uns auf die Positionen bringt. Mit mir auf der Laderampe des Lastwagens sitzen meine beiden neuen Kollegen, Petra und Christian. Mit ihnen werde ich den Tag bei Posten 17 verbringen, ausgangs der Fahrerlager-Kurve (wo 2012 Alain Menu und Alex MacDowall abgeflogen sind).

Dort setzt uns der Truck wenig später ab. Bepackt mit unseren Rucksäcken, den Klappstühlen und der Kühltasche stapfen wir durch das einen halben Meter tiefe Kiesbett, das die Autos bei einem Ausrutscher "abfangen" soll. Zum Glück sieht niemand außer meinen Begleiter, wie ich mich - etwas unbeholfen - über die Leitplanke schwinge. Ganz klar ausbaufähig, aber ich habe da ja auch keine Übung. Noch nicht. Die letzten Meter den leichten Hang hinauf, durch hohes und feuchtes Gras. Und wir sind da, an unserem Einsatzort.

Ich schaue mich um. Und mein Blick fällt gleich auf den FIA-Sicherheitszaun, der unsere Position von der Strecke abschirmt. Ansonsten ist da nicht viel, bis wir uns für den Tag häuslich einrichten. Mit den Dingen, die wir mitgebracht haben. Außer einer Plattform und dem kleinen Pavillon zum Schutz gegen Regen gibt es hier nicht viel. Toilette? Fehlanzeige! Ein Dixi-Klo steht aber bei den Kollegen von Posten 16 - auf der anderen Seite der Strecke.

Antreten zur Streckeninspektion

Die Aussicht ist jedenfalls beeindruckend. Dabei fahren noch nicht mal Autos. Wir müssen uns noch etwa eine Stunde gedulden, bis der Salzburgring erwacht. Langweilig wird uns aber nicht, denn es gibt viel zu tun. Zum Beispiel alsbald den Rückweg anzutreten: Die erste Streckeninspektion des Tages steht an. Also wieder rüber über die Leitplanke und in voller Montur an die weiße Linie stellen.

Ein Auto der Rennleitung, besetzt mit Streckenleitung und Funktionären, kommt kurz darauf um die langgezogene Rechtskurve. Die Insassen schauen, ob alle Helfer vor Ort und einsatzbereit sind. Sie winken uns freundlich zu, wir winken zurück. Das war's auch schon. Zurück durch das Kiesbett und über die Leitplanke. Ja, mit etwas Routine geht das schon! Das ist aber auch das Einzige, was ich schon kenne. Alles Andere ist völliges Neuland für mich.

So spitze ich die Ohren, als Christian den Funkcheck mit der Streckenleitung durchführt. Der Empfang muss stimmen, für beide Seiten. Denn im Fall der Fälle muss alles ganz schnell gehen. Deshalb ist am Funk auch Disziplin zu wahren, was Helmuth Geletiuk beim Briefing nochmals betont hat. Nur das Wichtigste geht am Salzburgring über den Äther. Wie kurz darauf das Kommando: "Das Training beginnt!"

Warum wird man eigentlich Streckenposten?

Ich bin aufgeregt, als die Motoren erklingen und die ersten Autos heranrauschen. Und das ist eine ganz andere Erfahrung als auf einer Tribüne zu sitzen und zuzusehen. Ein paar Schritte den Hang runter und die Autos kommen sogar direkt auf dich zu! Zwischen mir und den Fahrzeugen sind dann nur noch das Kiesbett und die Leitplanke. Und schon die Suzuki-Cup-Autos fetzen ordentlich um den Kurs. Mein Respekt für die Geschwindigkeit wird größer.

Während ich noch nicht so richtig weiß, ob ich jetzt den Kurvenein- oder Ausgang im Auge behalten soll, teilen sich Petra und Christian die Bereiche untereinander auf, um alles im Blick zu haben. Wie sie das schon seit Jahren tun. Der Vormittag beginnt aber recht ruhig. Ich nutze die Zeit, um meinen Kollegen erste Fragen zu stellen. Zum Beispiel die nach dem Warum: Wie kommt man denn auf die Idee, Streckenposten zu werden?

Christian muss nicht lange überlegen. "Es ist die Leidenschaft am Motorsport", sagt er. Und er schätze auch die Nähe zum Geschehen, die ihm kein Platz auf den Rängen bieten könne. Petra teilt dieses Interesse am Motorsport. Und sie ist nicht die einzige Frau, die beim ISSC an der Strecke steht und ihren Dienst tut. Das ist mir schon bei unserer morgendlichen Besprechung aufgefallen. Und ich hake nach.

Auch Frauen helfen mit als Streckenposten

Dabei erfahre ich unter anderem, dass Streckenposten nicht gleich Streckenposten ist. Ausgebildet und durch den Deutschen Motor Sport Bund (DMSB) geprüft sind sie alle, aber es gibt Flaggenposten, die den Rennfahrern mit Fahnen verschiedene Signale geben, und Arbeitsposten, die als Ersthelfer zum Unfallort eilen und die Rettung einleiten. Jetzt wird mir auch klar, warum wir kein Flaggenset mitgenommen haben: Station 17 ist ein Arbeitsposten.

Und Petra ist eine der wenigen Frauen, die an einer solchen Position eingesetzt werden. "Ich will halt auch zupacken", meint sie. Und dazu bekommt sie auch Gelegenheit, als ein Auto durch das Kiesbett brettert und die Ideallinie mit Kieselsteinen verunreinigt. Das Gröbste wird kurzerhand und möglichst rasch weggefegt, solange die Rennleitung den Fahrbetrieb mit der roten Flagge unterbrochen hat.

"Mein" erster Zwischenfall als Streckenposten. Und es geschah alles so verflixt schnell. "Das geht sich nicht aus", hatte Christian gesagt, als mir noch nicht einmal klar war, dass das Auto überhaupt von der Ideallinie abgekommen war. Petra und Christian duckten sich schon weg, als ich versuchte, das Geschehen zu erfassen. Und dann prasselten auch schon die Kieselsteine auf uns herab. Es klackerte am Helm.

Der Helm ist eine sinnvolle Investition...

Petra und Christian waren bereits unterwegs zum havarierten Auto, als ich überhaupt kapierte, was da binnen weniger Sekunden passiert war. Christian hat sich unterwegs vorsichtshalber den zwölf Kilogramm schweren Feuerlöscher geschnappt und sicherte die Unfallstelle, Petra überprüfte, ob der Fahrer okay ist. Ich beobachtete einfach nur. Weil mein Respekt vor all dem gerade noch viel größer geworden war. Gar keine Frage: Das sind alles eingespielte Abläufe.

"Jetzt weißt du auch, warum wir einen richtigen Helm tragen", sagt mir Christian mit einem Grinsen im Gesicht, als er nach erfolgreicher Bergung des Autos den kleinen Hang heraufkommt. Ja, jetzt weiß ich es. Und die sehr interessante Erfahrung beeindruckt mich nachhaltig. Ich bin nicht unfroh, als es eine Pause gibt und wir uns stärken können. Durch die Unterbrechung fällt die Mittagsruhe aber ein bisschen kürzer aus.

"Das sind wir gewohnt", meint Petra. Als Streckenposten musst du halt flexibel sein. Auch beim Essen. Was Warmes gibt es nur, wenn du es den ganzen Vormittag in der Sonne hast liegen lassen. Petra und Christian haben ihre Brotzeit aber in der Kühlbox verstaut und können nun aus dem Vollen schöpfen. Ich mache mich ebenfalls über mein Mitgebrachtes her. Gemeinsam genießen wir die Sonne.

Im Rennanzug schwitzt man ganz schön...

Apropos: Am kühlen Vormittag, wenn die Sonne allmählich hinter den Bergen hervorlugt und ihre erste Strahlen über den Salzburgring schickt, bist du froh, einen dreilagigen Rennoverall zu tragen. Der hält dich schön warm. Bis zu dem Punkt, an dem die Sonne regelrecht vom Himmel sticht. Ihr bist du während einer Session ausgeliefert. Und du schwitzt, was das Zeug hält - und bist dankbar für jedes laue Lüftchen...

So einen tollen Tag erwischt man als Streckenposten aber nicht immer. "Kann schon mal passieren, dass du einen ganzen Tag im Regen stehst", sagt Christian. Da ist dann Durchhaltewillen gefragt. Denn als Streckenposten verlässt du deine Station nicht, bis die letzte Einheit des Tages zu Ende ist. Das bedeutet an diesem Freitag für uns Drei: Posten 17 ist unser Zuhause von 8 bis 18 Uhr.

Wenigstens mangelt es nicht an Unterhaltung auf der Strecke. Und ich merke immer wieder, wie geschult die Augen sind, die neben mir über den Rennbetrieb wachen. Petra und Christian wissen dank ihrer jahrelangen Tätigkeit auf diesem Posten genau, wer die perfekte Linie hat, wessen Auto noch nicht richtig liegt, wer etwas zu mutig ist und sogar wie das Wetter wird. Und wieder einmal bin ich beeindruckt.

Wie ist es, an eine Unfallstelle zu kommen?

Auch von den Abläufen während der Trainings und wie die ISSC-Mannschaft Hand in Hand arbeitet. Als bei einem ETCC-Auto leichter Rauch aufsteigt, ist Christian zum Beispiel schon am Funk, um die Streckenleitung zu informieren. Es könnte ein Schaden sein, vielleicht läuft Öl aus. Und Vorsicht ist besser als Nachsicht. Deshalb wird auch jeder kleine Ausrutscher der Fahrer sofort gemeldet.

Ich frage nach, wie es ist, an eine Unfallstelle zu kommen. Ich selbst stelle es mir nämlich schrecklich vor. Petra und Christian haben aber bereits unzählige Rettungen vorgenommen. "Und mit der Zeit kriegst du eine gewisse Abhärtung", meinen sie. Auch wenn man sich nie wirklich an dergleichen gewöhnen kann. Das ist zumindest meine Erfahrung. Mir pocht das Herz bis zum Hals, wenn hier Einer abfliegt.

Das will natürlich niemand sehen. Auch die Streckenposten nicht. Doch wenn gar nichts passiert, übersieht man sie gern. Hand aufs Herz, liebe Leser: Nehmt Ihr die ehrenamtlichen Helfer im Hintergrund dann überhaupt wahr? Wenn wir alle ehrlich sind, wahrscheinlich nicht. Umso mehr gilt es, ihre Arbeit für den Motorsport zu würdigen. Denn ohne Streckenposten dreht sich hier buchstäblich kein Rad.

Ich muss dann mal weg...

Doch darum geht es meinen Kollegen an Posten 17 gar nicht, wie mir Christian sagt: "Der schönste Dank für unsere Arbeit ist, wenn die Fahrer sicher in der Ehrenrunde sind und uns zuwinken, wenn wir applaudieren oder die Flaggenparade machen." Und ganz nebenbei erleben die Streckenposten auch viel Interessantes an ihren Stationen. Wie zum Beispiel im vergangenen Jahr, als Menu und MacDowall fast zeitgleich vor Petra und Christian abflogen.

"Alain setzte sich dann einfach in meinen Klappstuhl und trank mein Red Bull", berichtet Christian. Er hat es dem späteren WM-Zweiten nicht übel genommen. Mir auch nicht, als ich am Nachmittag urplötzlich ins Fahrerlager gebeten werde - zwei Stunden vor Ablauf der Schicht. Und extra für mich bricht man die "Funkstille". Ich bekomme zwischen zwei Trainings eine kleine Taxifahrt zurück zur Boxengasse.

Nachdem mein vorzeitiger Abschied besiegelt ist, suche ich meine sieben Sachen zusammen, um rechtzeitig bereit zu sein. Und ich genieße noch einmal die Perspektive, die sich mir an Station 17 bietet. Ich bedanke mich bei meinen Kollegen, die mir einen sehr spannenden Tag beschert haben. Und dann schwinge ich mich ein letztes Mal über die Leitplanke, stapfe durchs Kiesbett, steige ins Auto.

Danke für alles!

Ganz plötzlich bin ich wieder das, was ich vorher schon war: Sportredakteur. Und Reporter. Ich soll am Abend noch ein längeres Interview mit Franz Engstler führen. Das wünscht sich Eurosport für die Berichterstattung am Samstag. Die Nummer läuft. Den Salzburgring verlasse ich am Abend aber nicht, ohne meine neuen Freunde vom ISSC noch einmal zu besuchen. Beim Feierabend-Bier in ihrer "Zentrale".

Am Ende eines langen Tages treffen sich die Streckenposten gegenüber der Boxengasse, um noch einmal über die Ereignisse ihrer Einsätze zu sprechen und ein paar gesellige Minuten zu verbringen. Ich gebe meine Ausrüstung ab, den Overall, die Handschuhe und den Helm. Mein Schnuppertag ist vorbei. Auch ich schnappe mir ein Bier - und schon sind wir mittendrin in Benzingesprächen...

Was bleibt, ist für mich die Gewissheit, eine ganz neue, aber wichtige Facette des Motorsports entdeckt zu haben. Und ich kann meinen Journalisten-Kollegen und jedem Rennfahrer nur empfehlen: Macht das mal! Stellt Euch einen Tag zu den Streckenposten und schaut Euch vor Ort an, was da geleistet wird, welche Entscheidungen innerhalb von Sekunden-Bruchteilen gefällt und wie sie umgesetzt werden.

Für diese besonderen Eindrücke bin ich sehr dankbar. Dem ISSC und natürlich Petra und Christian. Für ihre Zeit, für ihre Erläuterungen und natürlich für ihre Gastfreundschaft am Salzburgring und auf Posten 17 - herzlichen Dank! Und wer sich jetzt sagt, 'Mensch, das will ich auch mal machen!', der ist beim Internationalen Streckensicherungs-Club an der richtigen Adresse. Das kann ich bestätigen.

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