Von Versteckspielen bis Überholen für Fortgeschrittene: Das ausführliche Interview mit 'Motorsport-Total.com'-Lebenswerk-Preisträger Alessandro Zanardi
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Alessandro Zanardi ist immer für eine Überraschung gut. So auch bei der Übergabe unseres Lebenswerk-Awards. Denn der 47-jährige freute sich nicht nur außerordentlich über seinen Preis, sondern nahm sich statt der vereinbarten Viertelstunde über 45 Minuten lang Zeit für ein ausführliches Interview. Das lesen Sie hier bei 'Motorsport-Total.com' in voller Länge. Darin spricht Zanardi unter anderem über sich, seine Karriere, den schweren Unfall und seine Einstellung zum Leben.
Frage: "Alessandro, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für unser Gespräch. Wie geht es dir denn? Und mit was beschäftigst du dich derzeit?"
Alessandro Zanardi: "Eigentlich bin ich es, der sich dankbar zeigen sollte. Dafür, dass du hier bist und mir diesen tollen Preis überreicht hast."
"Es geht mir gut und ich bin derzeit sehr beschäftigt. Das liegt zum einen an meinem sportlichen Engagement und meinen Leistungen in der vergangenen Saison. Zu einem gewissen Grad ist das viel einfacher als Motorsport, andererseits hast du als Sportler eine viel komplexere Vorbereitung zu meistern. Nun bin nämlich ich der Motor. Und ich übertrage die Leistung durch meine Muskeln."
"Das bedeutet, du musst auch einen bestimmten Lebensstil an den Tag legen. Du kannst nicht so viel herumreisen und das Training mal schleifen lassen. Das funktioniert nicht. Du solltest schon methodisch vorgehen, wenn du es mit den besten Athleten deiner Kategorie aufnehmen willst. Der paralympische Sport ist nicht immer eine Umgebung, in der du die unglaublichen Leistungen wie im 'normalen' Sport findest."
Erst die Weltmeisterschaft, dann wieder Privatleben
"Dennoch: Das Niveau im Handfahrrad-Bereich ist unheimlich hoch. Natürlich kann man sich weiter steigern, doch die Wettbewerbe sind schon jetzt sehr schwierig. Ich meine, es ist wirklich bemerkenswert, dass ich in meinem Alter noch konkurrenzfähig bin. Dergleichen wird dir aber nicht auf dem Silbertablett serviert. Du musst hart dafür arbeiten und dich auf dein Tun konzentrieren. Das habe ich gemacht und es macht mir viel Freude."
"Doch als die Weltmeisterschaft zu Ende war, musste ich mich erst einmal den vielen Dingen widmen, die ich bei der Vorbereitung auf die Wettkämpfe schlicht zur Seite geschoben hatte. Seit September war ich also ganz gut beschäftigt. Hinzu kommt: In den vergangenen eineinhalb Monaten habe ich wieder mit meiner Arbeit für das Fernsehen angefangen. Ich habe eine Show auf dem nationalen Sender Rai 3. Also ja: Ich habe viel zu tun."
"Gerade in den vergangenen Tagen bin ich wie eine Flipperkugel herumgeschossen. Das wird bis zum Jahresende 2013 so bleiben. Danach muss ich dann mal wirklich ein bisschen Freizeit einschieben und die Zeit mit meiner Familie und meiner neuen Trophäe genießen. Ich muss mich dann auch neu aufstellen für die Saison 2014. Sie beginnt schließlich eher als mir lieb ist. Ja, ich bin beschäftigt, aber glücklich. All das, was ich tue, macht mir großen Spaß. Und spannend ist es noch dazu."
Einmal Racer, immer Racer?
Frage: "Du hast es bereits angesprochen: Als Rennfahrer warst du im Motorsport aktiv, nun bist du ein Rennfahrer auf dem Handfahrrad. Einmal Racer, immer Racer?"
Zanardi: "Ja, ich glaube schon. Vielleicht ist man schon immer so gepolt und wird deshalb ein Sportler oder ein Rennfahrer. Natürlich: Nicht jeder hat so viel Glück wie ich. Es ist ja nicht nur eine Frage der Hingabe oder des Talents. Es geht auch darum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein."
"Ich habe mich oftmals in einer solchen Position befunden. Deshalb habe ich große Befriedigungen erfahren. Und ich konnte auch eine Leidenschaft zum Beruf machen. Das war im Motorsport. Meine zweite Karriere geht eigentlich hauptsächlich auf die pure Leidenschaft zurück. Es ist etwas, was ich einfach gern mache. Später ist es mir dann erneut gelungen, das in eine professionelle Möglichkeit umzuwandeln."
"Als ich damit angefangen habe, bei Handfahrrad-Wettbewerben zu starten, wusste vor allem in Italien fast niemand, was das überhaupt für ein Sportgerät ist. Das ging mir ähnlich. Und jetzt hat sich der Sport entwickelt. London 2012 war sicherlich der Punkt, an dem es sich verändert hat. Wenn wir mit der italienischen Handfahrrad-Nationalmannschaft nun an einem Flughafen sind, werden wir nicht mehr länger gefragt, ob wir aus Lourdes (Wallfahrtsort in Frankreich) kommen (lacht; Anm. d. Red.)."
"Wir werden als Sportler anerkannt. Die Leute verstehen allmählich, dass es nur darauf ankommt, dass man sein Bestmöglichstes gibt. Und zwar unabhängig davon, wie es um deine Fähigkeiten bestellt ist. So kannst du die Leute auch mal verblüffen, wie es mir zum Beispiel in London gelungen ist. Das habe ich natürlich sehr genossen. Ich glaube halt, ich bin so, wie ich bin, weil ich so geboren wurde."
Zum Profi wird man nicht über Nacht
Frage: "Kannst du dich noch daran erinnern, wann du gemerkt hast, dass du ein Wettbewerbs-Typ bist, dass ein Sportler in dir steckt? Vielleicht im Kartsport?"
Zanardi: "Das war damals nicht so klar. Ich würde aber vermuten, dass ich damals bereits eine solche Veranlagung hatte, ja. Damals dachte ich, ich könnte nur glücklich werden, wenn ich meine Träume wahr machen würde."
"Mein größter Traum war, Formel-1-Fahrer zu sein. Ich dachte, ich würde nur so glücklich werden. Tatsächlich habe ich dann aber gelernt, dass man nur glücklich wird, indem man einfach nur sein Bestes gibt. Jeden Tag. Das ist sogar ein noch schnellerer Weg. Als Kind wirst du halt nicht über Nacht zum Formel-1-Piloten. Es ist ein langer Prozess. Unterm Strich habe ich aber das Tagtägliche genossen. Denn mir war klar, dass ich anders nicht ans Ziel kommen würde."
"Das ist auch der Rat, den ich Jugendlichen geben würde, die versuchen, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Wenn du an einem Tag dein Bestes gibt, stehst du am Abend besser da als am Vormittag. Das gibt dir für den folgenden Tag eine neue Ausgangsposition an die Hand. Und wenn du jeden Tag einfach nur ein bisschen nachlegst, wirst du eines Tages die wichtigste Person in deinem Leben treffen."
"Wenn du aber nicht jeden Tag dieses bisschen tust, triffst du diese Person vielleicht nie. Dann findest du deinen eigenen Chip Ganassi, der diese Person für mich war, nicht. Deshalb glaube ich: Du musst mögen, was du tust. Wenn alles nur schwierig ist und du das Gefühl hast, etwas opfern zu müssen, dann gehst du in die falsche Richtung, meine ich. Wenn du am Ende deiner Reise auch die Goldmedaille um den Hals hast, dann fühlst du dich viel besser. Das ist aber ein Mehrwert und nicht der eigentliche Wert."
Alles für die eine große Chance
"Als Kind wusste ich nichts von all dem. Ich hatte nicht mal Interesse daran, mir darüber Gedanken zu machen. Doch jetzt, als alter Mann, wenn ich zurückschaue auf meine Kindheit, kann ich nur sagen: Ja, es stimmt - ich hatte Glück. Doch jedes Mal, wenn mir eine dieser wichtigen Personen eine Chance gab, habe ich all mein Talent, meinen Enthusiasmus und meine Bemühungen in diese Sache investiert, um etwas daraus zu machen, um eine neue Chance zu bekommen."
"Und je mehr Erfahrung du dabei sammelst, umso mehr kannst du dich in dieser Hinsicht feintunen. Du verbesserst dich auch als Mensch und im Umgang mit anderen Menschen. Dann fährst du ein Rennauto, ohne dabei allzu verbissen an den Sieg zu denken. Du konzentrierst dich auf das Wesentliche. Das kommt aber mit der Zeit. Ich wünschte, ich könnte mit all meiner Erfahrung noch einmal meine 20er-Jahre durchleben. Ich bin mir sicher: Ich wäre ein viel besserer Fahrer. Doch das ist natürlich nicht möglich."
Frage: "Du warst in der Formel 1, der Königsklasse des Motorsports. Du hast die ChampCar-Meisterschaft gewonnen. Du warst in der WTCC siegreich. Du hast Goldmedaillen eingefahren. Gibt es etwas, das du rückblickend bereust?"
Zanardi: "Lass mich dir sagen: Ich empfinde es als überhaupt nicht falsch, etwas zu bedauern. Ich meine: Wer sagt, er bereue nichts, lügt zu einem gewissen Grad. Wir sind nun einmal Menschen. Und als Mensch bist du nicht perfekt."
"Natürlich: Wenn ich in der Zeit zurückreisen könnte, würde ich manche Dinge anders machen. Wenn ich aber ohne meine heutige Erfahrung zurückreisen würde, glaube ich, dass ich genau gleich viele Fehler machen würde. Wahrscheinlich würde ich auch genau gleich viel Gutes tun. Das perfekte Leben ist wohl die richtige Kombination aus Gutem und Schlechtem. Ob es nun oben, in der Mitte oder unten ist. Nur eine gerade, flache Linie, ist langweilig."
Zanardi sieht das Positive - und nur das Positive
"Ich bin sehr, sehr zufrieden mit meinem bisherigen Leben. Ich kann die Vergangenheit aber eh nicht verändern, nur meine Zukunft. Deshalb konzentriere ich mich stets darauf, etwas aus meinen Möglichkeiten zu machen. Ich sehe das nicht als Verpflichtung. Es sollte nicht so sein, dass man das Gefühl hat, etwas tun zu müssen, sich dem Wettbewerb stellen zu müssen, siegen zu müssen. Andererseits: Wenn du es tun kannst, warum solltest du es dann nicht tun?"
"Ich habe einfach eine sehr positive Einstellung zum Leben. Ich schaue es mir an und frage mich selbst: Was kann ich tun? Okay, ich kann bei Handfahrrad-Wettbewerben antreten. Wenn ich den Wunsch hätte, Ballett-Tänzer zu werden, müsste ich mir sagen: Nein, das ist nicht möglich (lacht; Anm. d. Red.). Ich wäre wohl eh kein besonders guter Ballett-Tänzer. Deshalb bleibe ich einfach bei dem, was ich tue."
Frage: "Sprechen wir über deine Vergangenheit im Motorsport. Du hast in den 1990er-Jahren den Schritt nach Nordamerika gewagt und bist dort rasch zu einem Topstar geworden. Über dein Überholmanöver in Laguna Seca, das als 'The Pass' bekannt wurde, redet man bis heute. Welche Erinnerungen verbindest du mit dieser Situation und mit der Zeit, in der du in den USA zu einer Legende geworden bist?"
Zanardi: "Oh, ich habe großartige Erinnerungen an diese Zeit."
"Doch ich muss auch sagen: Ich darf mich glücklich schätzen, in der ChampCar-Meisterschaft genau meine Dimension gefunden zu haben. So bin ich eben. Ich denke, diese Formel war perfekt für mich. Damals hatten wir unglaublich leistungsfähige Autos, irre viel Abtrieb und riesige Reifen. Es gab einen Reifenkrieg zwischen Goodyear und Firestone. Die Reifen waren immer sehr weich und schnell. Man musste sie aber schon sehr gut behandeln, denn sie hielten nicht die komplette Distanz."
Der Aufstieg zum Motorsport-Idol in den USA
"Wir hatten sehr schwere Autos, die die Reifen ziemlich strapaziert haben. Mein Fahrstil war perfekt geeignet für eine solche Maschine. Ich war schon immer ein sehr sanfter Fahrer und im Umgang mit der Technik des Fahrzeugs. Das schien ein natürliches Talent zu sein. Deshalb war ich im Qualifying zwar konkurrenzfähig, dominierte aber nicht. Nach zehn Rennrunden konnte ich dann jedoch regelrecht mit meinen Gegnern spielen."
"Nicht, weil ich eine Sekunde schneller gewesen wäre. Es war vielmehr so, dass sie eine Sekunde langsamer waren als ich. Wenn du verstehst, was ich meine. Das war damals mein Vorteil. So hatte ich die Möglichkeit, selbst nach Zwischenfällen noch einmal aufzuholen. Manchmal habe ich das komplette Feld überholt, mal Bryan Herta, mal Gil de Ferran, mal Michael Andretti - bei nur noch ein, zwei verbleibenden Runden. Deshalb habe ich beste Erinnerungen an diese Zeit."
"Und deshalb bin ich wohl auch bei den Fans in Erinnerung geblieben. Sie denken wohl in erster Linie an mein Manöver in der Corkscrew-Passage in Laguna Seca. Oder an das Rennen in Laguna Seca, wo ich zwischenzeitlich eine Runde zurück lag. Oder das Rennen in Toronto oder das Rennen in Cleveland, wo ich 27 Autos überholte und die 18 schnellsten Rennrunden drehte."
Welche Rolle spielt Glück im Rennsport?
"Wahrscheinlich müssen die Fans in den USA darüber nachdenken, wie viele Meistertitel ich gewonnen habe. Einer? Zwei? Vielleicht zwei? Oder doch nur einer? Möglicherweise drei? Sie wissen es vielleicht gar nicht mal genau. Wenn du sie aber fragst, was in Laguna Seca passiert ist, dann können sie dir das haarklein erzählen."
"Ich war damals der Protagonist einer Handlung, die nur wenige Sekunden gedauert hat, aber diese Sekunden waren unheimlich intensiver Motorsport. Und jedes Mal, wenn ich über diese Dinge nachdenke, füllt sich mein Herz mit Wärme. Ich bin stolz darauf. Die beste Erinnerung, die ich daran haben könnte, wäre wahrscheinlich, in der Zeit zurückzureisen und all das noch einmal zu machen (lacht; Anm. d. Red.)!"
Frage: "Würdest du dich selbst als Person bezeichnen, die Glück hat?"
Zanardi: "Aber natürlich!"
Frage: "Auch trotz der Dinge, die dir widerfahren sind? Du hattest 2001 schließlich diesen schweren Unfall, bei dem du beide Beine verloren hast..."
Zanardi: "Wenn meine Antwort nicht ernsthaft wäre, würde ich mich heute nicht in der Position befinden, in der ich heute bin."
"Der einzige Grund, warum ich heute hier bin und Goldmedaillen und zwei WM-Titel in der Tasche habe, ist, dass ich vom ersten Tag nach meinem Unfall daran geglaubt habe, dass es eine Chance gibt. Ich war vom ersten Tag nach meinem Unfall an sehr neugierig auf das, was da kommen würde. Ich war gespannt darauf, was mir das Leben nach dem Unfall noch bieten könnte."
Der Unfall eröffnet neue Möglichkeiten
"Hätte ich diese Vision über das Leben nicht gehabt, wäre es mir nicht so rasch gelungen, mich von dem Unfall zu erholen. Ich will mich hier nicht in einem besonders hellen Licht darstellen. Ich sage nur: Es geht um die Leidenschaft für eine Sache. Natürlich brauchst du dafür auch ein bisschen Talent. Talent alleine reicht aber nicht aus."
"Es gibt sicherlich etliche Jungs, die viel mehr Talent haben als ich. Doch sie kommen wahrscheinlich nicht mal ansatzweise in die Nähe davon, etwas in ihrem Leben zu gewinnen. Weil sie nicht den Willen haben. Mein Interesse, mein Wünschen hat mich in eine mir komplett unbekannte Welt geführt. In den paralympischen Sport. So habe ich alle Informationen in mich aufgesaugt, um letztendlich solche Ergebnisse einzufahren. Da hat sich aber eigentlich nichts verändert."
"Meine Herangehensweise war schon damals: Okay, der Unfall ist passiert. Was kann ich jetzt machen? Mir war klar: Ich würde andere Fähigkeiten haben, weil es zweifelsohne Dinge gibt, die ich ohne Beine nicht mehr machen kann. Ich war mir aber sicher: Es gibt etliche Dinge, die ich noch immer machen kann. Schauen wir einmal, was ich noch tun kann. Und dann treffe ich eine Wahl."
Die Neugier treibt Zanardi immer weiter an
"Wenn du stets nur daran denkst, was du nicht mehr machen kannst, ist das eine psychologische Sperre, die dich davon abhält, voranzugelangen. So erreichst du nichts. Würde ich so denken, würde ich zuhause sitzen und in Gedanken an frühere Zeiten schwelgen, als ich Rennfahrer war oder beispielsweise Fahrrad fahren konnte. Ich bin aber ein neugieriger Mensch. Und so habe ich nach dem Unfall ganz neue Leidenschaften entdeckt."
Frage: "Würdest du sagen, 'niemals aufgeben' ist ein Motto, das deiner Lebensphilosophie entspricht? Oder hast du vielleicht ein anderes persönliches Lebensmotto?"
Zanardi: "Ich weiß diese Frage zu schätzen, denn ich werte sie als Kompliment. Vielleicht sieht es von außen so aus - niemals aufgeben."
"Tatsächlich müsste es aber einen Grund geben, um aufzugeben. Ich sah damals keinen Grund, um aufzugeben. Warum auch? Ich habe das Leben schon immer als große Möglichkeit verstanden. Es ist noch immer eine große Möglichkeit. Ich bin ja schließlich noch nicht tot. Ein kleiner Teil meines Körpers war damals tot, aber es ist mir gelungen, den wichtigen Teil meines Körpers nach Hause zu bringen."
"Und ich sehe das Leben noch immer als tolle Chance. Natürlich: Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich all diese Dinge gern vermieden. Als ich aber in diese Probleme geraten war, konnte ich nur meine Neugier bewahren und schauen, was mir das Leben noch würde bieten können."
"Vorbild? Ich? Wow!"
Frage: "Ich habe dich in der WTCC als eine sehr positive Person kennengelernt. Und ich glaube, es ist genau das, was die Leute so sehr an dir schätzen. Viele bezeichnen dich als Vorbild, als ihren Helden, als Idol. Hat sich durch diese Wahrnehmung etwas für dich verändert?"
Zanardi: "Ich kann das definitiv spüren. Ich kann nur sagen: Es macht mich stolz, dass mich die Leute als Vorbild bezeichnen, dass ich sie inspiriere. Fantastisch!"
"Ich fühle aber nicht, dass ich eine gewisse Rolle zu spielen habe. Meine Rolle ist, mich um mich selbst zu kümmern, meine ganz eigenen Sorgen zu haben. An erster Stelle steht meine Familie, an zweiter Stelle folgen meine Leidenschaften, meine Freunde, meine Wohltätigkeitsprojekte. Ich kann mein Leben nur so gut wie möglich leben. Wenn ich nebenbei durch mein Tun jemanden inspiriere, der dadurch in die Lage versetzt wird, seine eigenen Probleme zu lösen, dann muss ich sagen: wow!"
"Auch das macht mich stolz. Ich sehe aber nicht, dass ich da eine bestimmte Verpflichtung habe. Ich habe auch nicht das Recht, eine solche Rolle zu verlangen. Ich will nicht das Gefühl haben, nach einer bestimmten Rolle leben zu müssen, etwas Bestimmtes zu tun oder dergleichen. Das wäre nicht aufrichtig und damit auch nicht effektiv. Also nein, ich lebe einfach mein Leben. Ich denke, das ist die Antwort."
Frage: "Du inspirierst viele Menschen. Aber was ist eigentlich deine Inspiration?"
Zanardi: "Oh, viele Dinge. Ganz viele Dinge. Als ich noch ein Kind war, mein Vater. Dann die großen Champions wie Ayrton Senna, aber auch Alain Prost oder Fahrer wie Keke Rosberg oder vielleicht Damon Hill."
"Ich kann mich daran erinnern, wie ich ein Rennen verfolgte, in dem Damon die Geduld hatte, auf die richtige Gelegenheit zu warten. Er trug dann auch den Sieg davon. Damit hat er etwas gemacht, was ich nie hätte tun können. Bei mir hätte die Ungeduld die Überhand genommen. Ich hätte das Manöver viel zu früh probiert und wahrscheinlich mein Rennen und das Rennen meines Gegners ruiniert."
Die 13 fehlenden Runden am Lausitzring
"Du kannst also vieles von anderen Menschen lernen. Normalerweise schaust du zu Leuten auf, die etwas tun, was du selbst mal tun willst. Viele Leute halten mich für ein Vorbild. Das liegt aber auch daran, dass ich nun eben recht präsent bin. Man sollte aber auch bewusst nach Menschen suchen, die Vorbilder sein können."
"Nehmen wir mal eine Mutter, die am Morgen aufsteht und sich krank fühlt. Sie bereitet dennoch das Frühstück für ihre Kinder zu, bringt sie in die Schule, ehe sie zur Arbeit fährt, weil sie eine Familie ernähren muss. Sie wäre ein großartiges Vorbild für uns alle. Genau so wie Alessandro Zanardi, der einfach nur ein Kerl ist, der das Glück hat, all das machen zu können, was er machen will (lacht; Anm. d. Red.). Du verstehst?"
Frage: "Apropos: Du hast zwei Jahre nach deinem schweren Unfall die fehlenden 13 Runden absolviert, die damals noch zu fahren gewesen wären. Wann war dir klar, dass du das tun würdest? Hattest du diesen Entschluss vielleicht schon auf dem Krankenbett gefasst? Und was hat dich dazu bewogen, diese 13 Runden zu fahren?"
Zanardi: "Die Idee dazu hatte ich nicht sofort. Denn das spielte damals überhaupt keine Rolle für mich."
"Andererseits: Wenn die Frage lauten würde: Wann hast du gewusst, dass du etwas dergleichen machen könntest? Wann hast du gewusst, dass du keine Angst vor etwas dergleichen haben würdest? Selbst direkt nach meinem Unfall hatte ich aber nicht das Gefühl, Angst haben zu müssen. Warum auch? Mir ist schon klar, dass dich diese Antwort wahrscheinlich etwas überrascht."
Das Schicksal trifft jeden von uns
"Tatsache ist aber: Als ich nach meinem Unfall im Krankenhaus aufgewacht bin, war ich derselbe Kerl wie zuvor. Ich hatte einfach nur ziemliches Pech gehabt, dass ich in einen solchen Unfall verwickelt worden war. Es war ein furchtbarer Unfall. Ich bin aber der einzige Rennfahrer in der Geschichte des Motorsports, der auf diese Weise seine Beine verloren hat."
"Das zeigt auch: Da war viel Pech im Spiel. Denn wenn ich der einzige bin, dem dergleichen widerfahren ist, dann war es etwas ganz Außergewöhnliches. Dir ist schon klar, dass so etwas passieren kann. Doch wenn du dir zu viele Sorgen darüber machst, was passieren kann, dann könnte auch die Decke über unseren Köpfen in jedem Moment kollabieren und über uns zusammenfallen."
"Wir haben es erst vor wenigen Tagen in den Medien erfahren: Ein Hubschrauber stürzte auf eine Kneipe und es kamen Leute ums Leben, die einfach nur ein Bier trinken und Zeit mit ihren Freunden verbringen wollten. Meine Antwort könnte also auch sein: Was machst du morgen? Gehst du auf ein Bier in die Kneipe? Oder sagst du dir: Nein, ich bleibe besser zuhause, denn sonst könnte ich ja von einem Hubschrauber getötet werden. Das ist die Antwort. Du musst dein Leben leben."
Der eine Moment, der alles verändert...
"Es ist aber auch vollkommen nachvollziehbar, dass jemand, der ein Problem hat, diese Situation nicht noch einmal erleben will. Das ist menschlich. Es war aber nicht meine Reaktion. Ich bin im normalen Straßenverkehr viel aufmerksamer, weil ich weiß, dass es dort, zum Beispiel bei Nacht und Nebel, viel gefährlicher zugeht als auf einer Rennstrecke unter kontrollierten Bedingungen."
"Heutzutage fahren die Leute auch mit dem Handy in der Hand, schreiben Nachrichten an die Freundin, rauchen eine Zigarette. Doch da könnte jederzeit ein Kind einem Ball hinterherlaufen. Und schon verändert sich das Leben von einer Sekunde auf die andere - und für immer. So etwas passiert täglich. Wir hören es jeden Abend in den Nachrichten. Solche Dinge passieren."
"Natürlich sagt man sich: Mir passiert das nicht. Doch irgendjemanden trifft es. Und wenn es irgendjemanden trifft, kann es auch dich selbst treffen. Wir sollten daher einfach aufmerksamer durch das Leben gehen. Denn es gibt Dinge, die wir tun können, um dergleichen zu vermeiden. Auch ich bin nun viel aufmerksamer."
Keine Zweifel beim Comeback im Cockpit
"Ich hatte allerdings das große Glück, an diesem einen Tag in einem Rennauto zu sitzen. Das war schließlich meine Leidenschaft. Warum sollte ich also nicht erneut in ein Rennauto steigen, wenn ich die Möglichkeit dazu habe? Es ist meine Leidenschaft. Dass ich einen Unfall hatte, führt ja nicht dazu, dass ich einen weiteren Unfall haben werde. So sehe ich das."
Frage: "Du hast nicht nur diese fehlenden 13 Runden absolviert, sondern danach auch noch etliche Rennen, wie zum Beispiel in der Tourenwagen-WM. Macao gilt als einer der schwierigsten Stadtkurse der Welt. Hattest du jemals Zweifel an dem, was du tust? Gab es jemals einen Punkt, an du das hinterfragt hast?"
Zanardi: "Nein. Ich vertraue meinen Fähigkeiten, das Auto auf dem Schwarzen zu halten."
"Ich vertraue auch meinen Mechanikern, dass sie alle Schrauben richtig anziehen. Und mir ist klar: Motorsport ist gefährlich. Es gibt aber vieles im täglichen Leben, was ebenfalls ziemlich gefährlich ist. Wir tun es dennoch. Und meistens denken wir gar nicht darüber nach."
"Okay, durch Macao zu fahren ist in gewisser Weise völlig idiotisch. Es ist aber noch viel verrückter, die Kosten drücken zu wollen, Macao aber als letztes Saisonrennen zu installieren. Deshalb ist Macao ein bisschen dämlich. Als Fahrer muss ich sagen: Ja, in Macao kannst du dir wehtun, aber das kann dir auch auf jeder anderen Strecke passieren."
Der größte Sieg eines Rennfahrers
Frage: "Niki Lauda hat einmal gesagt: Sein größter Sieg sei gewesen, die Formel 1 überlebt zu haben. Was würdest du als deinen größten Sieg bezeichnen?"
Zanardi: "Ich stimme Niki Lauda zu. Und ich verstehe vollkommen, was er damit sagen will. Damals zu fahren, in den damaligen Autos, das war wie russisches Roulette. Das war etwas ganz anderes."
"Dein Fahrzeug konnte kaputtgehen. Und ein solcher Defekt konnte zu einem schweren Unfall führen. Feuer war damals ein großes Problem. Das hat Niki Lauda am eigenen Leib erfahren. Ich kann also völlig verstehen, was er meint. Zum Glück für mich war ich aber kein Teil dieser Ära im Motorsport. Daher... Es gibt Dinge, vor denen ich ein bisschen Angst habe. Das geht aber eher in die Richtung, wie es um meine Familie bestellt ist."
"Mein Sohn ist nun 15 Jahre alt. Wenn er mich fragt: Dad, kann ich heute Abend mit meinen Freunden abhängen? Da sage ich immer nein. Ich weiß, er ist gerade in einem Alter, in dem dich ein Freund davon überzeugen kann, dass es wirklich cool ist, zu rauchen oder ein paar Pillen einzuwerfen. Vor so etwas habe ich sehr viel Angst. In diesem Alter bist du einfach sehr verletzbar."
Frage: "Würdest du daher sagen, deine Familie ist dein größter Gewinn?"
Zanardi: "Ich weiß es nicht. Es steht mir nicht zu, zu urteilen, was mein größter Sieg ist. Der größte Sieg ist derjenige, den man am wenigsten erwartet hat. Ich hatte nicht viele davon. Laguna Seca war kein so unerwarteter Sieg, denn ich hatte dieses Manöver schon 20 Runden lang in meinem Kopf gehabt. Und eigentlich hatte ich es gar nicht so geplant."
"Unerwartet... Das ist etwas, was ich beim Versteckspiel mit meinem Neffen erfahren habe. Sein Bruder, mein Sohn und einige Freunde waren auch noch dabei. Damals hatte ich schon keine Beine mehr und besaß auch noch keine Prothesen. Wir spielten also Verstecken. Und ich passte in Verstecke hinein, von denen man nicht glauben würde, dass sich darin jemand verstecken könnte. Wir hatten unheimlich viel Spaß."
Onkel Alex als Star beim Versteckspielen
"Als mein Neffe schließlich ins Bett gebracht wurde, sagte er seinem Vater: 'Dad, wenn ich einmal erwachsen bin, will ich zwei Sachen machen. Ich will einen Ferrari fahren und ich will keine Beine haben, genau wie Onkel Alex.' Für ihn war ich ein so cooler Bursche, weil ich keine Beine hatte. Das hat mich sehr stolz gemacht. Denn was mir passiert ist, hätte mich in einen sehr verärgerten Menschen verwandeln können. Ich hätte sehr unglücklich werden können."
"Doch so ist es nicht gekommen. Das liegt an meiner Natur. Wenn dir aber ein Kind sagt, dass du kein Griesgram bist, sondern vielmehr ein cooler Hund, dann ist das magisch. Ein Kind ist sehr aufrichtig. Es ist kein Erwachsener, der dir schmeichelt oder dergleichen. Es will mehr mit seinen Worten ausdrücken. Ein Kind ist ein Kind. Wenn du so ein Kompliment bekommst, ist das wie ein Funke, den man nicht erwartet hatte."
Frage: "Du steckst voller Überraschungen. Kannst du mir sagen, was du als nächstes vorhast? Etwas in der Richtung von weiteren Goldmedaillen oder weiteren WM-Titeln? Was steht auf deiner Liste? Vielleicht sogar ein Comeback auf der Rennstrecke?"
Zanardi: "Nun, lass es mich so sagen. Als ich 2009 in Mailand mit meinen Freunden von BMW Italien sprach, haben sie mir erklärt, weshalb sie aus der WTCC ausgestiegen sind. Sie haben mir angeboten, in der italienischen Superstars-Meisterschaft weiterzumachen."
"Ich entschied, das nicht zu machen. Es wäre ein Schritt zurück gewesen. Wenn das Auto gut zu fahren ist und du deinen Spaß hast, was kümmert es dich dann, ob es ein Schritt nach vorn oder ein Schritt zurück ist? Zumindest in meinem Alter. Wichtig ist, dass es dir Spaß macht. Andererseits hatte ich eben schon geraume Zeit im Kopf gehabt, mich verstärkt auf das Handfahrrad zu konzentrieren."
Weiter Motorsport, oder...?
"Ich wollte schauen, ob ich mich für die Paralympischen Spiele qualifizieren könnte. Ich wollte das bestmöglich machen. Wäre ich weiter Rennen gefahren, hätte ich das so umsetzen können. Es wäre schwierig geworden, diese beiden Dinge zu vereinen. Ich hätte viel Spaß gehabt in der Superstars-Serie, kein Zweifel. Doch das wäre etwas gewesen, was ich schon immer gemacht hatte."
"Und ganz ehrlich: Das Unbekannte war eine viel größere Verlockung. Und so viel meine Entscheidung. Das schien damals ziemlich dumm zu sein. Selbst meine Frau fragte mich, ob ich mir wirklich sicher sei. Ich hätte schließlich Geld mit dem Rennfahren verdient, die Rennen wären im TV gelaufen und so weiter. Stattdessen widmete ich mich dem Handfahrrad, einer schier unbekannten Sportart mit quasi unbekannten Protagonisten."
"Du musst aber auf dein Herz hören, um zu wissen, was du tun willst. Und damals wollte ich eben Handfahrrad fahren. Ich tat es auch. Ich legte mich voll ins Zeug, war mit Feuereifer dabei. Und am Ende hat es mir sehr viel Spaß gemacht und ich erzielte einige großartige Ergebnisse. Dafür habe ich auch viel Anerkennung erfahren. Das war aber nicht der Plan. Das ist mir überhaupt nicht wichtig."
"Die Resultate in London haben mir so viel Lob, Liebe und Hochschätzung aus aller Welt eingebracht. So viel wie mir wahrscheinlich nicht zuteil geworden wäre, selbst wenn ich als Ferrari-Pilot den Monza-Grand-Prix gewonnen hätte (lacht; Anm. d. Red.). Du musst einfach verstehen, wo du im Leben hinwillst. Damals war das der Weg, den ich gehen wollte. Ich denke, das beantwortet deine Frage."
Frage: "Gibt es noch etwas, das du gern hinzufügen möchtest?"
Zanardi: "Nein. Ich habe jetzt ja schon eine Stunde lang geredet... (lacht; Anm. d. Red.)!"